Sitemap Impressum/Datenschutzhinweis

Einleitung

Der 7. Oktober 2023 war eine Zäsur. Auf äusserst brutale Weise wurden rund 1200 Menschen im Süden Israels ermordet, 230 Geiseln in den Gazastreifen als Geiseln verschleppt. 3000 Terroristen, darunter so laut Zeugen auch Menschen, die nicht als Hamas-Anhänger erkennbar waren, drangen auf israelischen Staatsgebiet ein, begleitet von tausenden Raketen, die aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert wurden, innerhalb der ersten Stunden sind ca. 5000 Raketen gezählt worden. Hinzu kam der Beschusss der Hisbollah aus dem Libanon, auch die Huthi in Jemen schossen Raketen auf Israel.

Unter "Allahu Akbar"-Rufen sind Menschen nicht nur "einfach" ermordet worden. Ihre Leichen wurden zusätzlich verstümmelt, die Täter nutzen Bodycams, um ihre Taten live in den sozialen Medien zu übertragen, die Smartphones der Opfer wurden genutzt, um die Ermordung der Menschen live den Angehörigen zu posten. Viral ging das Bild der bewusstlosen oder schon ermordeten Deutsch-Israelin Shani Louk auf X: Terroristen zogen sie an den Haaren, ihr Körper wurde von Jugendlichen bespuckt. Sie war Teilnehmerin des Nova-Festivals, ein Rave-Festival, das sich der Völkerverständigung verpflichtet fühlt.

Aber nicht nur das Festival wurde überfallen, auch viele Kibbuzim, wahllos wurden Menschen umgebracht, weil sie Juden waren. Es war das schlimmste Massaker nach der Shoah. Ein Leichnam eines Babies fand man verbrannt in einem Ofen, noch Lebenden wurde mit einfachen Gartengeräten der Kopf abgetrennt. Die offen zur Schau gestellte Brutalität, besser der Sadismus, findet keine Worte.

Keine Worte, und wenn, dann meist die falschen, fanden auch weite Teile der Menschen, die sich politisch "links" einordnen. Sie schwiegen oder glorifizierten die Taten als notwendige Taten einer Befreiungsbewegung. Die sehr linke Soziologin Eva Illouz spricht von einer moralischen Bankrotterklärung der Linken.

Die in Wien lebende sehr feministische engagierte Beatrice Frasl schrieb in einer Kolummne der Wiener Zeitung:

"Wir haben kollektiv versagt

Was gesagt werden muss:

Dass Antisemitismus auch 75 Jahre nach dem Holocaust immer noch nicht verstanden wird. Dass offenkundig gedacht wird, er sei „wie Rassismus“ oder eine Art von Rassismus oder einfach eine negative Meinung oder diskriminatorische Haltung gegenüber dem jüdischen Volk. Dass Antisemitismus aber viel eher eine Verschwörungserzählung über einen als übermächtig und böse imaginierten Gegner zu verstehen ist. Dass Antizionismus, in Form der Imagination von Israel als Kolonialmacht oder Apartheitsstaat etwa, eine Spielart genau dieser Verschwörungserzählung ist. Dass wir, wenn Antisemitismus 75 Jahre nach dem Holocaust immer noch nicht verstanden wird, kollektiv versagt haben."

Beatrice Frasl: "Was gesagt werden muss" vom 27. 10. 2023, online hier abrufbar, zuletzt eingesehen am 28. 11. 2025.

Nach zwei Jahren hätte man vielleicht annehmen können, dass inzwischen aufgrund der verstrichenen Zeit und damit mehr (Er)kenntnisse die Aussagen versachlicht haben. Aber davon leider keine Spur, in den sozialen Medien wird weiterhin gehetzt, Israels durchaus kritikwürdige Politik dennoch einseitig betrachtet.

Erneut lasse ich Beatrice Frasl zu Wort kommen:

"Was soll man noch und in welchen Worten sagen angesichts dieser Verrohung, dieser Unmenschlichkeit?

Es gibt keine Worte in der deutschen Sprache, die groß und absolut genug wären, um diese Abgründe zu beschreiben.

Nichts davon werden wir vergessen

Was man aber trotzdem sagen muss:

Nichts davon werden wir vergessen. Wir werden eure „This is decolonization“- Posts nicht vergessen. Es wird nie wieder ein Wir geben mit euch. Es gibt keinen Weg zurück von hier. Ihr habt selbst, mit Hafermilch-Lattes in der einen und dem Smartphone in der anderen Hand, ohne Not, von euren beheizten Altbauwohnungen aus, mit euren pastellfarbenen Insta-Slides und euren verblödeten Slogans jeden zivilisatorischen Rahmen verlassen.

Ihr macht mich fassungslos.

Die Grenzenlosigkeit eurer moralischen Verwahrlosung ist nicht zu fassen. Die eurer Dummheit auch nicht."


Der 7. Oktober und die Reaktionen hierauf sind auch für mich eine Zäsur.

Wer sich im politisch linken Spektrum einordnet, steht eher für soziale Gerechtigkeit, Akzepzanz der Gleichheit von Menschen unabhängig ihrer Herkunft, Ethnie, sozialem Status usw. Antisemitismus steht dem entgegen. Natürlich muss man Israels Politik kritisieren, der rapide Anstieg unsachlicher und vor allem einseitiger Kritik lässt allerdings vermuten, dass hinter der "linken" Fassade sich antisemitische Ressentiments befinden.

Methodisch unterscheide ich zwischen einem "linken" Alltagsantisemismus und einem ideologisch-linken Antisemitismus.

Unter einem ideologisch-linken Antisemistismus verstehe ich Antisemitismus, der sich zum Beispiel einer linken Kapitalismuskritik, USA-Kritik, Kolonialismustheorien undifferenziert bedient, um Israel zu delegetimieren. Bei den Akteuren handelt es sich also um eher um Menschen, die sich intensiver auch in theoretischer Hinsicht mit der Thematik auseinander setzen.

Unter "linkem" Alltagsantisemitismus verstehe ich eine antisemitische Haltung, die sich äussert bei Menschen, die sich als politisch "links" bezeichnen, ihren Antisemitismus als Kritik an Israel verbrämen, ohne dies aber mit linken bzw. sogar sozialistischen Theorien zu begründen. Dieser Antisemitismus hat meines Erachtens deutlich zugenommen, der Bösewicht ist ausschließlich Israel, vermeintlich "linke" Kritik an Israel bedient sich antisemitischer Stereotype. Dieser Alltagsantisemitismus zeichnet sich auch aus durch eine erstaunliche Ignoranz und Empathielosigkeit gegenüber des Massakers am 7. Oktober 2023 im besonderen und der Empfindsamkeit der Israelis aufgrund der Shoah im Allgemeinen.

Insbesondere in den Diskussionsforen sozialer Medien zeigen sich diese Antisemitismusformen. Selbstverständlich gibt es zwischen den beiden von mir unterschiedenen linke Antisemitismusformen Mischformen, eine klare Grenzziehung ist nicht immer möglich. Ein letztes Mal Beatrice Frasl:

"Was man auch sagen muss:

Nichts davon ist ein Zufall.

Die Unfähigkeit der postmodernen Linken, Antisemitismus zu erkennen oder sich von ihm abzugrenzen, ist kein Zufall und kein Unfall, da sie selbst strukturell antisemitisch ist.

Es ist kein Zufall und kein Unfall, dass Judith Butler die Mörderbanden der Hamas und der Hisbollah schon 2006 als Teil der „progressiven Linken“ bezeichnete. Es ist kein Zufall und kein Unfall, wie Antisemitismus aktuell in Form von vulgär-postkolonialistischem Antizionismus hervorbricht, der Jüdinnen und Juden zu kolonialistischen weißen Unterdrückern umdeutet.

All das hat mit dem ideologischen Überbau aktueller postmoderner social-justice-Bewegungen zu tun. Mit Theorien und Pseudotheorien und Glaubensinhalten, die sich als progressiv verkaufen und sich das zu allem Überdruss auch selbst glauben, aber zutiefst regressiv, antiemanzipatorisch und autoritär sind. All das wird jetzt sichtbarer als je zuvor.

Was gesagt werden muss:

Dass es notwendig ist, genau hinzusehen, welche Ideologien es sind, die ihre Anhänger:innen dazu bringen, Massenmord an Jüdinnen und Juden zu feiern oder die es ihnen nicht möglich machen, diesen klar zu verurteilen."

Genau dies Ziel verfolge ich hier:

Es ist deutlich, dass erstens antisemitische Äusserungen und Taten deutlich zugenommen haben, und dass zweitens viele Metaphern und Zuschreibungen sich reduzieren lassen auf leider schon altbekannte, antisemtische Stereotype. Natürlich steht nicht hinter jedem Post ein Antisemit, selbstverständlich ist sachliche Kritik am Staat Israel erlaubt und gerade in Bezug auf Netanjahu notwendig.

Was ich aber auch sagen muss:

Meine Beiträge hier sind ebenso einseitig, insofern als ich die palästinensische Seite hier nur einseitig beleuchte, die Leiden der Palästinenser kein Thema sind. Dies machen Vertreter der "Gegenseite" - um diese Dichotomie aufzumachen - selbst zur Genüge. Mein Verzicht hierauf bedeutet indes nicht, diese Leiden nicht anzuerkennen. Politische Fehler sind stets auf beiden Seiten begangen worden. Natürlich haben auch die Israelkritiker das Recht, ihrerseits Israel ebenfalls einseitig zu kritisieren, schliesslich sind soziale Medien keine wissenschaftlichen Fachbücher. Allerdings macht der Ton und die Sachlichkeit die Musik, die vielerorts nicht vorhanden ist. Vor allem ist zu fragen, wo diese Stimmen sind bei anderen Konflikten? Einmal mehr zeigt sich, dass "Israel" der Trigger ist, der Menschen dazu bringt, die Hände auf die Tastatur zu legen.

"Frau Heinrich, die hier pars pro toto steht, ist nicht deshalb eine Antisemitin, weil sie Israel kritisiert, weil sie den Krieg im Libanon verurteilt. Sie ist deswegen eine Antisemitin, weil von Juden begangene Taten und Untaten bei ihr einen Reflex auslösen, der sich bei anderen Übeltätern nicht einstellt."

Henrik M. Broder über ein konkretes Beispiel, in: der ewige Antisemit, Frankfurt am Main 1981986, S. 117.

Problematisch sind eben die vielen vollkommen unsachlichen Kommentare, Kommentare, die jede historische Fakten ausblenden, gar verbiegen oder Unwahrheiten beinhalten, weil sie nicht in das eigene Weltbild passen. Ob das jedes Mal etwas mit Antisemitismus zu tun hat? Dies möge der Leser beurteilen:

"Es hat alles mit Antisemitismus nichts zu tun. Wie man das überhaupt unterstellen kann. Wo sich Deutschland doch so gewandelt hat, jedenfalls das gute, das linke und das liberale Deutschland. Zudem können Positionen von linken und woken Menschen per se nicht antisemitisch sein, denn linke und gerechtigkeitsempfindende Menschen stehen per se immer auf der Seite der Entrechteten.

Und wenn linke und liberale Menschen befinden, dass Palästinenser entrechtet sind, dann ist das so. Dann wollen sie keinen kleinkrämerischen Widerspruch hören, von wegen Nova-Festival, Geiseln, Vergewaltigungen und angegriffenes Land. Wenn Linke einmal festgestellt haben, wer entrechtet ist, dann darf es da keinen Widerspruch geben. Das ist der antiautoritäre Charakter.

Da darf es auch keine falsche Empathie mit dem Klassenfeind geben. Klassenfeind sagt man irgendwie nicht mehr so gerne, aber die Denke ist geblieben. Keine Empathie mit Israelis, die im eigenen Land heimatlos geworden sind. Mit jüdischen Gemeinden in Deutschland, die damit zu kämpfen haben, dass der Antisemitismus stärker geworden ist. Mit Jüdinnen und Juden, die alle paar Tage lesen müssen, dass irgendwer wieder Waffen besorgt hat, um sie umzubringen. Muss man kein falsches Mitleid haben. Ist ja nichts passiert. Empathie würde nur von den wahren Entrechteten ablenken, und das sind per definitionem die Palästinenser und -innen, Unterstrich, Doppelpunkt, Sternchen, Tilde, Bass- und Violinschlüssel.

Es hat alles mit Antisemitismus nichts zu tun, sondern nur mit Gerechtigkeitsempfinden. Gerechtigkeitsempfinden äußert sich vor allem darin, dass man immer schon vorher weiß, wer unterdrückt wird und wer unterdrückt. "

Gerald Beyrodt, Redakteur beim WDR in seinem Blog, hier vollständig nachzulesen, letzter Aufruf am 28. 11. 2025.