Die Zahl rechtsradikaler Gewalt in Deutschland erschreckt. Die Gewaltrate (gemessen an der Zahl der Einwohner in den einzelnen Bundesländern) ist in den neuen Bundesländern dabei deutlich höher im Vergleich zu den alten. Hierfür wird häufig die Situation nach der Wende, insbesondere die unsichere wirtschaftliche und soziale Situation in den neuen Ländern, verantwortlich gemacht.
Analysiert man aber sozialwissenschaftliche Studien, die sich dieser Thematik widmen, fallen signifikante qualitative und quantitative Unterschiede in den beiden Teilgebieten West- und Ostdeutschland auf. Beispielsweise werden negativ stigmatisierte Nationalitäten und ethnische Gruppen (wie zum Beispiel Polen, Türken, Araber usw.) im Osten Deutschlands nicht nur von einem größeren Personenkreis abgelehnt, sondern außerdem noch stärker. Eine polarisierende Denkweise in einfachen Schwarz-Weiß- bzw. Freund-Feind-Kategorien ist in den neuen Ländern häufiger anzutreffen ebenso wie autoritäre Einstellungen u. v. a. Die Untersuchungen, die mit gleicher Methodik die beiden Teilgebiete getrennt betrachten, liefern noch verschiedene andere signifikante Unterschiede, die hier nicht aufgezählt werden können. Sie zeigen zusammenfassend jedoch folgendes: Ökonomisch orientierte Erklärungsansätze sind für die alten Bundesländer relevanter, hier kann man durchaus von einem Wohlstandschauvinismus sprechen, um Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus zu erklären:
"Betrachtet man die Ergebnisse [...] im Zusammenhang, so zeigt sich, daß Jugendliche der alten BRD stärker dazu neigen die allgemeine Wirtschaftsentwicklung durch Krisenphänomene zu charakterisieren."(1) Selbst "historisch-nationalisierende Einstellungen", das sind nach Melzer den NS relativierende Einstellungen, korrelieren bei westdeutschen Jugendlichen stärker, wenn sie die wirtschaftliche Lage als Krise charakterisieren oder sie zumindest als bedroht sehen.(2) Die hier zitierte Untersuchung wurde unmittelbar nach der Vereinigung durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt war die Gewaltrate bereits deutlich höher in den neuen Ländern, die reale Wirtschaftslage dagegen war zu diesem Zeitpunkt bedeutend besser wie gegenwärtig ebenso wie die subjektive Einschätzung der Befragten zur wirtschaftlichen und sozialen Situation in den neuen Ländern.
Demzufolge sind die Ursachen fremdenfeindlicher und rechtsradikaler Einstellungen in den neuen Ländern woanders zu suchen: "Manifeste Ausländerfeindlichkeit mag zwar in den lebensweltlichen Grundstrukturen zu denen auch die Bereiche der Ökonomie und Arbeit zählen, entspringen; sie entwickelt jedoch ihre Ausprägung unter vielerlei Brechungen und Überformungen. Die besondere Situation des vormals geteilten Deutschlands hat zur Folge, daß ökonomische Erklärungsfaktoren zwar in Westdeutschland greifen, in Ostdeutschland aber von Aspekten der politischen Kultur der ehemaligen DDR überlagert und dominiert werden."(3)
Die wenigen, auf den Vergleich angelegten Studien, zeigen, daß die Ursachen fremdenfeindlicher und rechtsradikaler Einstellungen schließlich zu finden sind
Zentrale Thesen
Ausgangsthesen: Die Ursachen der fremdenfeindlichen und rechtsradikalen Einstellungen in den neuen Ländern sind nicht in der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und den damit vorhandenen Problemen und Umwälzungen zu verorten, "gar zu schnell wird die Entwicklung der Nachwendezeit einseitig als Erklärung bemüht."(4) Die mit der Vereinigung einher gehenden ökonomischen und sozialen Probleme stellen lediglich einen neuen Begründungszusammenhang dar für längst erworbene Einstellungsmuster.
Diese Einstellungen sind nicht auf Jugendliche beschränkt. Auch Ältere weisen stärkere Affinitäten zu fremdenfeindlichen und rechtsradikalen Einstellungen auf als in den alten Bundesländern. "Der verengte Blick auf 'Rechtsextremismus und Gewalt' als 'Jugendproblem' oder als 'Randständigkeit' schützt vor der unangenehmen Nachdenklichkeit über die gar nicht so 'randständigen' Hintergründe des derzeitigen Untergangs zivilgesellschaftlicher Hoffnungen. Solange jugendlicher Rechtsextremismus nicht als Bestandteil der gesellschaftlichen – generationsübergreifenden – Normalität wahrgenommen wird, hat die Auseinandersetzung mit dem Phänomen eben auch Alibifunktionen."(5) Diese Alibifunktion besteht m. E. auch darin, durch die Beschränkung der Untersuchungen auf Jugendliche etwaige unbequeme Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus von vornherein (unbewußt) auszuschließen.
Die Ausblendung des Nationalsozialismus zur Erklärung des aktuellen Rechtsradikalismus und der fremdenfeindlichen Einstellungen hat auch etwas mit dem Mythos der "Stunde Null" zu tun, die "Stunde Null" aber hat es in keinem der beiden deutschen Staaten gegeben.
Die Ursachen der hier untersuchten Einstellungen sind zu finden in:
1. der Sozialisation:
In der DDR wurden für Diktaturen typische Charakterdispositionen geschaffen: Kontaktunsicherheit, Feindbilddenken, Entfremdung (auch von sich selbst). Diese bilden eine wichtige Grundlage für fremdenfeindliche und rechtsradikale Einstellungen.
2. im Umgang der DDR mit Fremden:
Der Umgang mit Fremden in der DDR erzeugte soziale Distanz zwischen Deutschen und Fremden. Dies begünstigt die Anwendung von physischer Gewalt gegen Fremde und schafft Raum für Vorurteile (= negative Einstellungen).
3. im Selbstverständnis der DDR als "antifaschistischen" Staat:
Diesem Selbstverständnis entsprechend konnte die Staatsführung mit rechtsradikalen Tendenzen unter Jugendlichen nicht adäquat umgehen, da es solche Tendenzen im "antifaschistischen" Staat nicht geben durfte. Innerhalb der Gruppe sg. "negativ-dekadenter" Jugendlicher fielen andere Jugendliche, insbesondere Punks, stärker aus dem Rahmen. Rechtsradikale waren ordentlicher, paßten eher in das enge Bild, deswegen wurde ihnen eher mit Toleranz begegnet.
Schließlich wurden auf Grund der historischen Entwicklung und wegen des Selbstverständnisses der DDR nationalsozialistische Ideologeme stärker konserviert. Das offizielle Selbstverständnis der DDR bot den Deutschen, die den Nationalsozialismus zumindest als Mitläufer akzeptiert hatten, verschiedene Entlastungsangebote.