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5. DDR-spezifische Ursachen fremdenfeindlicher und rechtsradikaler Einstellungen

5.1 Das autoritäre System der DDR

5.1.1 Die politische Sozialisation

5.1.2 Folgen der Sozialisation

5.1.2.1 Spaltung in ein offizielles und inoffizielles "Ich" sowie Vertrauensverlust

5.1.2.2 Gefühlsunterdrückung

5.1.3 In der Familie: Fortsetzung der repressiven und autoritären Sozialisation

5.1.3.1 Eine generelle Bemerkung zur Rolle der Primärgruppe

5.1.3.2 Anpassungsdruck als Folge der familiären Sozialisation

5.1.3.3 Die Feindbild-Genese in gestörten Eltern-Kind-Beziehungen

5.1.4 Anknüpfungspunkte zu Fremdenfeindlichkeit und zum Rechtsradikalismus

5.1.5 Zusammenfassung

5.2 Institutionalisierte soziale Distanz zu Fremden in der DDR

5.2.1 Die Wohn- und Arbeitssituation der Ausländer

5.2.2 Die Folgen der Ausgrenzung

5.2.2.1 Soziale Distanz und Vorurteile

5.2.2.2 Soziale Distanz und Gewalt bei ostdeutschen Jugendlichen

5.2.3 Soziale Distanz und Gewalt: ein Erklärungsansatz

5.2.4 Zusammenfassung

5.3 Der verordnete Antifaschismus der DDR

5.3.1 Faschismus = Antikommunismus: die Interpretation des Nationalsozialismus

5.3.2 Auswirkungen auf Jugendliche

5.3.3 Der Umgang in der DDR mit rechtsradikalen Jugendlichen

5.3.4 Zusammenfassung

5.4 Rechtsradikalismus im historischen Kontext der Nachkriegszeit

5.4.1 Die Mitläufer im Nationalsozialismus: die erklärten Sieger der Geschichte

5.4.2 Der Zusammenhang mit rechtsradikalen Einstellungen

5.4.2.1 Kommunisten: Unbeliebt in Deutschland

5.4.2.2 In der Nische: Tradierung alter Wert- und Normvorstellungen

5.4.3 Zusammenfassung

5. DDR-spezifische Ursachen fremdenfeindlicher und rechtsradikaler Einstellungen
5.1 Das autoritäre System der DDR
5.1.1 Die politische Sozialisation

 

"Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei."(194) Diesem in der Verfassung verankertem Selbstverständnis mußten sich die Sozialisationsinstanzen unterordnen zwecks Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu sg. "sozialistischen Persönlichkeiten". "Sozialistische Persönlichkeit ist das sich im Prozeß der gesellschaftlichen Arbeit selbst gestaltende und entwickelnde Individuum, das unter der Führung der marxistisch-leninistischen Partei [...] seinen Lebensprozeß in ständig wachsendem Maße unter Kontrolle nimmt [...]. Für die Persönlichkeit [...] können daraus folgende Merkmale und Eigenschaften bestimmt werden: Das Streben nach Aneignung einer umfassenden Allgemeinbildung und ständiger Vervollkommnung des beruflichen Wissens und Könnens; die Fähigkeit und das Bedürfnis zur selbständigen schöpferischen Arbeit und zur praktischen Anwendung neuer Erkenntnisse; ein fester sozialistischer Klassenstandpunkt, der in der sozialistischen Ideologie und Weltanschauung begründet ist und in der aktiven Parteinahme für den sozialistischen Staat zum Ausdruck kommt; sozialistische moralische Qualitäten und Verhaltensweisen, wie vor allem ein hohes Pflicht- und Verantwortungsbewußtsein, sozialistischer Gemeinschaftsgeist, Kämpfertum und Mut zum Risiko, Ehrgefühl und Gewissenhaftigkeit, Internationalismus und Achtung vor dem Menschen."(195) So definiert das Philosophische Wörterbuch von Klaus/Buhr den Begriff "sozialistische Persönlichkeit". Befremdlich mag zunächst erscheinen, daß nur auf ein Wörterbuch Rekurs genommen wird. Dieses Wörterbuch war das Standardwerk in der DDR. Man kam kaum umhin, sich nicht darauf zu beziehen.(196) Es gibt keine systematische empirische und vor allem repräsentative Forschung über reale Sozialisationserfahrungen in der DDR, so daß das quantitative Ausmaß der folgenden Aussagen letztlich nicht bestimmt werden kann. Diese Erfahrungen waren aber die Regel, von der es natürlich auch Ausnahmen gab.

1965 wurde die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit gesetzlich verankert.(197) "Die politisch-ideologische Erziehung erfolgte auf allen Stufen des aufeinander abgestimmten Bildungsgefüges; [...] Erfaßt wurden Vorschuleinrichtungen wie Kinderkrippen, Kindergärten und Spiel- und Lernmittage, die zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule, die Einrichtungen zur Berufsausbildung, die zur Hochschulreife führenden Einrichtungen, insbesondere die erweiterte Allgemeinbildende Polytechnische Oberschule, Einrichtungen der Aus- und Weiterbildung Berufstätiger, Fachschulen, Universitäten und Hochschulen."(198)

Zwar wird unter "sozialistischer Persönlichkeit" u. a. auch ein selbständig handelndes Individuum verstanden, gemäß der Definition aber stets unter der Führung der marxistisch-leninistischen Partei. Dies verdeutlicht den totalitären Anspruch des DDR-Regimes, es ging tatsächlich um eine ideologische Durchdringung aller Staatsbürger. Dies verdeutlicht das Standardwerk eines Autorenkollektivs zu "Psychologischen Untersuchungen zur Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten":

"Auf der anderen Seite können sich sehr selbständige oder auch schöpferisch handelnde Menschen verantwortungslos verhalten, wenn sie sich aus egoistischen oder Cliqueninteressen für die Realisierung gesellschaftswidriger Normen einsetzen [...]. Die Befähigung zu selbständigem und schöpferischem Handeln allein reicht also bei der Erziehung sozialistischer Persönlichkeiten nicht aus. Bei falscher Zielorientierung können sich Selbständigkeit und auch schöpferisches Handeln negativ auswirken, können zu kollektivwidrigem, egoistischen Verhalten führen. Selbständiges und schöpferisches Verhalten erhält nur dann positive Bedeutung, wenn es an richtigen gesellschaftlichen Normen orientiert, von Einsicht in die Notwendigkeit und von Verantwortung gegenüber dem Kollektiv (die Gesellschaft) getragen, wenn es also mit Verantwortungsbewußtsein gepaart ist."(199)

Gleichzeitig ging es den politischen Akteuren nicht nur um die "reine" Ideologisierung, sondern die Ideologie wurde zur Herrschaftssicherung interpretiert und letztlich instrumentalisiert.(200) Deswegen ist es ausreichend, die Sozialisation in realiter zu betrachten und nicht nach positiven Seiten des Erziehungssystems zu suchen.

Die Ideologisierung begann bereits im Vorschulalter. Ungefähr 95% aller Kinder haben in der DDR einen Kindergarten besucht. Bereits dort wurde indoktriniert: Den Kindern wurde sozialistisches Gedankengut mittels Gedichten, Erzählungen u ä. nahegebracht.(201)

1986 wurde ein Film über Kindergärten in der DDR gedreht. Der Film wurde in der DDR verboten, weil er ungeschönt die Zustände dort zeigte: Die Kinder wurden diszipliniert, zu einer offenen und freien Entfaltung der Persönlichkeit kam es nicht, ein Eingehen auf kindliche Bedürfnisse gab es nicht. Beim Essen beispielsweise durfte nicht gesprochen werden (selbst bei einem Kindergeburtstag), am sg. "Tag der Volksarmee" mußten die Kinder Soldaten, Panzer u. ä. malen. Dem Direktor des Kindergartens war das Filmen sehr angenehm, weil man daran erkennen könne, wie früh die staatspolitische Erziehung einsetze. Betont werden muß noch, daß der "Tag der Volksarmee" immer so begangen wurde.(202) Die FDJ gab zweimonatlich die Zeitschrift "Bummi" heraus, in der Kinder mit den Tätigkeiten von Soldaten vertraut gemacht wurden. Gezeigt wurden z. B. marschierende Soldaten, die gleichzeitig singen (weil dies Spaß mache) oder beobachtende Soldaten, damit sich keine bösen Menschen einschleichen.(203)

In den Kindergärten, Krippen usw. "wurde ihre 'Fähigkeit zur Einordnung in das Kollektiv' als besonders wertvoll herausgestrichen [in den Beurteilungen der Kinder, der Verf.], dagegen Eigenständigkeit und Individualität abgewertet."(204) Bei dieser Wertung gehen wesentliche kindliche Grundbedürfnisse verloren, u. a. Liebe, Zuneigung und Individualität. Die Kinder wurden zum Gehorsam und zur Disziplin erzogen.

Dies hat sich in der Schule fortgesetzt. Alles mußte einen Bezug zum Marxismus-Leninismus haben bzw. durch die Ideologie erklärt werden. Es wurde ein in sich geschlossenes Weltbild vermittelt. Dies war zwar Wandlungen unterworfen, Ausgangspunkt war aber immer der Marxismus-Leninismus.(205) Ab 1979 bildete das formulierte Erziehungsziel im Schulgesetz eine wichtige schulische Grundlage, das u. a. besagte, "die Welt, die Realität, die Gesellschaft, die Natur zu erkennen, und zwar wissenschaftlich exakt und vom sozialistischen Standpunkt aus."(206)

Hinzu kam noch eine intensive vormilitärische Erziehung, die nicht nur der Landesverteidigung, sondern auch einer generellen Identifikation mit dem Staat dienen sollte. 1978/79 wurde ein obligatorischer Wehrkundeunterricht in den Schulen eingeführt und seitdem ausgebaut. Auch dieses begleitete dem Bürger in der DDR auf allen Stufen der Sozialisation: "Die Vorbereitung auf den Wehrdienst ist Bestandteil der Bildung und Erziehung an den allgemeinbildenden Schulen, Einrichtungen der Berufsausbildung, Fachschulen, Hochschulen und Universitäten."(207)

In der neunten Klasse gab es vier Doppelstunden "sozialistische Landesverteidigung" und am Schuljahresende einen zwölftätigen Kurs in Zivilverteidigung. Aus den fachlich-methodischen Hinweisen geht z. B. hervor, daß die Errungenschaften des Sozialismus geschützt werden sollten mit den Streitkräften des Warschauer Vertrages mit der Sowjetunion als Hauptkraft. Gegner war die NATO im allgemeinen und die Bundesrepublik im besonderen, die angeblich den Aufstand am 17. Juni 1953 angezettelt habe und angeblich bereit war, am 13. August 1961 (Mauerbau) die DDR zu überfallen. So "ist das wertvollste Ergebnis der politischen Erziehung bei Jungen - sich schriftlich zu verpflichten, wenigstens drei Jahre zu dienen, während die pflichtmäßige Militärdienstzeit nur eineinhalb Jahre dauert."(208) Darüber hinaus sollten die Jugendlichen zum Heldentum erzogen werden.(209)

Lehramtsstudenten wurden angehalten, bei der Thematisierung des Vietnam-Krieges die Grausamkeiten nicht zu stark zu verdeutlichen, damit die Jugendlichen nicht abgeschreckt würden.(210)

Die Jugendlichen wurden nicht nur auf theoretischer Ebene mit dem Militär vertraut gemacht, es gab auch praktische Übungen. 1952 wurde – also noch vor der Gründung der NVA (Nationale Volksarmee) – die GST (Gesellschaft für Sport und Technik) gegründet, die eng mit der FDJ zusammenarbeitete. Die Organisation läßt sich charakterisieren als Wehrsportgruppe inklusive Freizeitangebot. Es gab Übungen mit Luftdruckgewehren und Möglichkeiten, Moped-Führerscheine zu erwerben. Die FDJ wiederum unterhielt eine sg. "Ordnungstruppe", in der mit Handfeuerwaffen, Pistolen, Maschinenpistolen und Karabinern geübt wurde. 1989 hatte die Berliner Ordnungsgruppe ca. 6000 Mitglieder.(211)

Die politische Sozialisation war eine Erziehung zum Feindbilddenken, Individualität und Spontaneität waren nicht gefragt. Man wurde zur Unterordnung und zur Disziplin erzogen. Eine offene, freie Sozialisation gab es nicht. Wenn Lehrer den vorgegeben Rahmen verlassen wollten, mußten sie ihrerseits mit Disziplinierungen rechnen.

Lemke hat herausgestellt, daß in der Familie teilweise andere, der offiziellen Ideologie entgegengestellte, Auffassungen vorherrschend waren. Gleichzeitig spielte die Familie (im Vergleich zu westlichen Staaten) eine wichtigere Rolle.(212) Es ist in der DDR nicht gelungen, vollständig alle Bereiche zu erfassen, insbesondere auch nicht, die Familien in die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit in hohem Maß einzubeziehen. Deswegen war eine möglichst umfassende Betreuung durch staatliche Sozialisationsinstanzen funktional. Daher sind auch die von Maaz beschriebenen Situationen repressiver Entbindung letztlich funktional zum Erziehungsziel. Neugeborene Kinder wurden Maaz zufolge sehr früh von der Mutter getrennt. Somit wurde der emotionale Kontakt, der gerade sowohl für die Mutter als auch für das Kind notwendig ist, stark eingeschränkt.(213) Vom sechsten Lebensmonat an bis zum vollendeten dritten Lebensjahr wurden die Kinder in Krippen betreut, im Anschluß daran kamen die Kinder in die Kindergärten. Durchschnittlich 60% der Kinder wurden in Krippen betreut, die eindeutig überwiegende Mehrheit vom zweiten Lebensjahr an (zwischen ca. 92% und ca. 96%).(214) Auch wenn das Ausmaß der von Maaz beschriebenen repressiven Entbindung unbekannt ist, belegen diese Zahlen, daß Kleinkinder lange von ihren Eltern getrennt wurden.

Die Krippen wurden 1950 eingerichtet, seit 1960 trat eine Erziehungsaufgabe hinzu, die 1965 auf eine gesetzliche Grundlage gestellt wurde. "Kinderkrippen wurden 1965 als unterste Stufe des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems definiert (GBL. I Nr. 6 1965 § 10)." Erziehungsziel war eine altersgerechte Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit, die in der Krippe begonnen hat, später (ab 1970) kamen Bildungsinhalte hinzu.(215) Die durchschnittliche tägliche Aufenthaltsdauer betrug 8,3 Stunden, ungefähr 32% der Kinder verweilten täglich länger als neun Stunden in der Krippe.(216) Die Erzieherinnen wechselten häufig, so daß sich keine emotionalen Bindungen aufbauen konnten. Die Eltern hatten sich der Erziehung der Krippe unterzuordnen, sie wußten in der Regel nicht, was dort geschah, die Kinder wurden häufig kritiklos den Erzieherinnen überlassen.(217)

Diese Betreuung war nicht nur eine Notwendigkeit, um die Berufstätigkeit der Frau zu ermöglichen, sondern verfolgte eindeutig politische Ziele: Durch die Trennung entfremdeten sich die Kinder von den Eltern, so daß der Einfluß der Familie schließlich schwand. Dadurch stieg der Einfluß staatlicher Sozialisationsinstanzen.

Die Kinder wurden also in einem hohen Maß von den Müttern getrennt, so daß auch hierdurch die kindlichen Grundbedürfnisse nach Nähe, Liebe und Zuneigung wesentlich eingeschränkt worden sind. Hieraus erklärt sich auch der hohe Stellenwert der Familie: Die Wünsche Jugendlicher, eine Familie zu gründen, war eine Möglichkeit, die Defizite der Sozialisation zu kompensieren.

Es fehlen systematische Untersuchungen über die Auswirkungen dieser Sozialisation. Natürlich wurden nicht alle Kinder generell psychisch geschädigt. Trotzdem läßt sich festhalten, daß es zu Defiziten kommen kann, die wiederum auf die Bildung rechtsradikaler Einstellungen flankierend wirken.

5.1.2 Folgen der Sozialisation

5.1.2.1 Spaltung in ein offizielles und inoffizielles "Ich" sowie Vertrauensverlust

Die Widersprüche zwischen der offiziellen Ideologie und den Verlautbarungen einerseits und den Realitäten andererseits waren zu offensichtlich, als daß man sie nicht hätte wahrnehmen können. Nach außen aber durfte die Unzufriedenheit nicht gezeigt werden, so daß zwei "Ichs" entstanden sind: ein offizielles (sozialistisches) "Ich" und ein privates "Ich".

Dies kann beispielsweise gezeigt werden an den oben erwähnten Film über Kindergärten in der DDR: Es kam in der Kantine zu einem Gespräch mit den Filmemachern und einer Mitarbeiterin des Fernsehens der DDR. Sie befürwortete "auf sehr bösartige Weise"(218) den Verbot des Films, weil er eine schlimme Diffamierung sei. "Plötzlich kam sie allein zu mir [zu Anne Richter, der Verf.] und sagte: Frau Richter, ich möchte Ihnen noch sagen – ich stehe jetzt als Privatperson vor ihnen –, daß mich dieser Film sehr erschüttert hat [...]. Aber vorhin habe ich als Frau des Fernsehens gesprochen, und das sind zwei sehr verschiedene Dinge."(219)

Diese Charaktereigenschaft war schon in frühen Lebensalter vorhanden. Marianne Birthler hat als Katechetin versucht, Kindern mittels Rollenspielen Selbstbehauptung beizubringen. Ein 10jähriges Mädchen fragte dabei, ob es sagen soll, was richtig sei oder was es denke.(220)

Dies waren nur zwei Beispiele, die aber durchaus verallgemeinert werden können. Ein typisches Verhalten in der DDR war ein unterschiedliches Rollenverhalten, je nachdem, ob man "offiziell" sein mußte, um Disziplinierungen zu vermeiden, oder ob man "privat" sein konnte. Für diese Spaltung gibt es (noch) keinen Begriff. Sicher ist nur, daß man von keiner Schizophrenie oder einem "Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Effekt" sprechen kann, denn in der DDR interagierten beide Hälften miteinander. Dies ist bei der Schizophrenie nicht der Fall. Eine Hälfte weiß nicht, was die andere zeitweise macht.

Die Existenz zweier "Ichs" wiederum hat auch Vertrauensverlust zur Folge, weil man sich seines Gegenüber nicht immer sicher sein kann, ob man sich ihm gegenüber privat äußern kann. Das Wissen von der Staatssicherheit, das repressive politische System, das Angst erzeugte, ist ein wesentlicher Faktor für eine grundsätzlich distanzierte Haltung anderen gegenüber.

Die beschriebene Sozialisation ist ein wesentlicher Faktor, weil grundsätzlich weniger Bezugs- und Vertrauenspersonen vorhanden sind. Hierdurch wurde von vornherein Distanz erzeugt. Tatsächlich waren im Zeitraum 1990-1992 deutlich mehr Ostdeutsche anderen Mitmenschen gegenüber mißtrauischer als Westdeutsche.(221)

5.1.2.2. Gefühlsunterdrückung

Folge der Repressionen war, daß Gefühle unterdrückt werden mußten, schon um seinem offiziellem Ich gerecht zu werden. Wut über die realen Zustände konnte nicht geäußert werden. Dazu gehören auch die unzureichenden Möglichkeiten, über die lebensnotwendigen Bedürfnisse hinaus weitere zu befriedigen. Am Umgang mit westdeutschen Produkten wird dieser Mangelzustand deutlich: "Der Fetischcharakter westlicher Waren war nicht mehr zu überbieten: Leere Bier- oder Coladosen wurden [...] auf die Schrankwand gestellt, Plastetüten mit Reklameaufschrift besaßen Handelswert, Westkleider machten Leute.(222)

Die Auswirkungen sind u. a. eine "Entfremdung von der Natürlichkeit",(223) eben weil die natürlichen Bedürfnisse des Menschen nicht mehr befriedigt werden können, was Frustrationen zur Folge hat. Diese müssen verdrängt werden. "Die Erfahrung und Wahrnehmung der frustrierten Bedürfnislage und der inneren angespannten Befindlichkeiten werden einfach zu unangenehm."(224) So wird verlernt, seine eigenen (inneren) Bedürfnisse wahrzunehmen und sich somit nach außen hin zu orientieren, was schließlich eine Entfremdung von sich selbst bedeutet. Die Folge der Außenorientierung ist, daß die Maßstäbe von außen übernommen werden. Daraus resultiert "Anpassung, Kontrolle, Ordnung, Disziplin, Anstrengung und Leistung".(225) Das entspricht der lebensgeschichtlichen Verarbeitung autoritärer Strukturen bei Oesterreich.

Die Sozialisation im Kindergarten und in der Schule trug ein Weiteres dazu bei, daß Gefühle eher unterdrückt wurden, denn Gefühlsäußerungen setzen Spontaneität voraus. Spontaneität aber wurde laufend unterdrückt, weil dies die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit zuwiderlaufen würde. "Ich habe vergebens versucht, in offiziellen Dokumenten z. B. die Begriffe 'Gefühle' oder 'Erziehung der Gefühle' zu finden."(226)

Die Gefühlsunterdrückung war eine wesentliche Methode der Anpassung, weil niemand ständig mit negativen Gefühlen leben kann. Folglich müssen sie, wenn sie nicht anders kompensiert werden können, unterdrückt werden. In solch einer Verfassung ist er einzelne dann empfänglicher für offizielle Vertröstungen, die Realität wird dann "schön" geredet bzw. das Vorbild "Westdeutschland" negativer gesehen. Dies wirkt natürlich positiv auf den individuellen Gefühlshaushalt. Annette Simon z. B. bezeichnete die sinnlich-ästhetischen Dinge (Gerüche, Farben usw.) im Westen als die "Verpackung des ausbeuterischen Systems".(227) Sowohl das Suchen nach positiven Seiten des Systems als auch nach schlechten des anderen politischen Systems sind psychologische Schutzmechanismen. Diese sind, unter machtpolitischen Gesichtspunkten betrachtet, sehr funktional: Die guten Seiten dienen der Identifikation mit dem Staat (dazu gehört insbesondere das soziale Versorgungssystem). Die schlechten Seiten des anderen politischen Systems schließlich dienen der Stützung des Feindbildes.

5.1.3 In der Familie: Fortsetzung der repressiven und autoritären Sozialisation

5.1.3.1 Eine generelle Bemerkung zur Rolle der Primärgruppe

Auch die DDR blieb von Modernisierungsprozessen nicht verschont, es kam, wenn auch in geringerem Umfang als in anderen westlichen Industriestaaten, zu Differenzierungen und Pluralisierungen in der Gesellschaft. Ursächlich hierfür war u. a. die in den 60er Jahren entstandene höhere Mobilität.(228) Das SED-Regime hat nicht adäquat reagiert, so daß die Kluft zwischen den staatlichen Organen und der Gesellschaft schließlich zunahm. Reaktionen hierauf waren staatliche Repression und eine Re-Ideologisierung, die in den staatlich organisierten Sozialisationsinstanzen stattfand.(229) Dadurch hat sich die Kluft entsprechend vergrößert. Dies wiederum hatte verstärkt den Rückzug in das Private, in die Nische, zur Folge. Die Bedeutung der Primärgruppen wuchs. Die Familie war dabei die wichtigste Primärgruppe.(230) Da die Kluft zwischen der staatlichen Führung und der Bevölkerung ebenfalls wuchs, insbesondere seit der Reformpolitik Gorbatschows, war die Familie auch zunehmend überfordert mit der Nischen-Funktion, zumal andere Kompensationsmöglichkeiten zunehmend eingeschränkt waren, z. B. privater Konsum. Es kam zu einer "Überforderung der privaten Sphäre".(231) Der Alltag war immer schwieriger zu bewältigen. "Die DDR war auch eine Mangelgesellschaft, in der umfangreiche zeitliche Ressourcen für die Bewältigung des Alltags oder die Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen gefordert waren."(232) Um dies zu erleichtern, kann die Primärgruppe auch nach utilitaristischen Motiven ausgesucht worden sein. "Beziehungen" waren nötig, um den Alltag bewältigen zu können. Es kam also nicht nur auf einen Kreis "echter" Freunde an, sondern Freunde und Bekannte waren auch notwendig, um bestimmte Produkte zu organisieren. Allgemeiner formuliert: zwischenmenschliche Beziehungen wurden instrumentalisiert, der bzw. die andere wurde auch unter Nützlichkeitserwägungen betrachtet.

Auch solche Prozesse fördern emotionale Defizite, so daß die Bedeutung der Familie steigt, die Familie aber als letztes Rückzugsgebiet völlig überfordert wird.

Dies schließlich hat Konsequenzen für die familiäre Sozialisation. Die Familiengründung wurde zunehmend davon abhängig gemacht, ob der Partner bzw. die Partnerin den Anforderungen gerecht werden, im Alltag bestehen könne.(233)

5.1.3.2 Anpassungsdruck als Folge der familiären Sozialisation

Die Familie stand unter solchen Bedingungen unter besonderen Druck: Das Kind, dessen Bedürfnisse nach Liebe und Zuneigung zunehmend vernachlässigt worden sind, möchte diese Gefühle selbstverständlich befriedigen. Es möchte um jeden Preis geliebt werden. Deswegen ist es auch bereit, möglichst viel dafür zu tun. Ein einfacher Weg, dies zu erreichen, ist, den Eltern möglichst zu gefallen, sich ihnen anzupassen.

Die frühe Trennung von Mutter und Kind hat Trennungsangst, gespeist aus einem mangelnden Gefühl der Geborgenheit, zur Folge. Durch die frühe Trennung bei der Geburt geht das kindliche Urvertrauen zur Mutter verloren, es wird zumindest geschädigt. Dieses ist sogar ein beidseitiger Prozeß wie auch Entfremdung von beiden Seiten ausgeht. "Das Kind wird sich mit der Mutter gut fühlen, wenn auch diese sich mit ihm gut fühlt. Das Urvertrauen ist eine Eigenschaft der beiderseitigen Beziehung."(234) Die Stärke der Schädigungen, die dem Kind zugefügt werden, sind abhängig von der Stärke der Deprivation. Symptome sind Angst, übertriebenes Liebesverlangen, Kontaktunfähigkeit, Unsicherheit. "Längere Isolation bewirkt, daß das Kleinkind seine Kontaktsehnsucht verdrängt [...]. Der Trennungsschock hat die innere Sicherheit des Kindes zutiefst erschüttert."(235) Nun kann dies nicht ohne weiteres verallgemeinert werden. Trotzdem: Die lange Trennung von der Mutter, verursacht durch die verschiedenen Sozialisationsinstanzen bereits im Kleinkind-Alter, lassen die Beziehung zwischen Mutter und Kind entfremden.

Da die Mutter-Kind-Beziehung eine entfremdete ist, wird der Partner der Mutter als Störenfried wahrgenommen, denn das Kind leidet unter Isolationsangst. Das Resultat ist dann ein Anpassungsdruck und autoritäre Unterwerfung, weil es die Beziehung zur Mutter aufrecht erhalten will. Das bedeutet dann, alles zu vermeiden, was die Mutter als Ärger empfinden könnte. Unterdrückung von Wut, Trauer usw. sind die Folge. Sie lernen, "ihre Wünsche nach Gehalten- und Geliebtwerden zu unterdrücken."(236) Denn dies würde die Eltern belasten. "Die häufige Abwesenheit der Eltern, ihr gestreßter und unbefriedigter Zustand ließen die Kinder fürchten, daß sie die Ursache des elterlichen Übels sein könnten. So versuchten sie sich um so mehr anzustrengen und anzupassen, nur um ihre Eltern wieder froh zu stimmen".(237)

Außerdem war noch eine sehr direkte autoritäre Erziehung notwendig, nämlich dann, wenn die Kinder nicht dem sozialistischen Ideal in der Öffentlichkeit entsprochen haben. Um nicht aufzufallen, mußten die Kinder diszipliniert werden, sowohl um sich als Elternteil selbst als auch die Kinder zu schützen. In einer entfremdeten Eltern-Kind-Beziehung gibt es kaum gegenseitiges Verstehen, so daß die Eltern zu repressiv-autoritären Erziehungsmaßnahmen greifen mußten, um ihre Kinder zu disziplinieren. Eine Mutter berichtet, daß sie noch 1989 inhaftiert wurde, weil der Sohn aus der SED austrat.(238) Wenn Kinder, deren Eltern "sensible" Positionen innehatten, einen Ausreiseantrag stellten, mußten die Beziehungen zu den Kindern abgebrochen werden, damit der Arbeitsplatz erhalten blieb.(239) Um solchen staatlichen Zugriffen zu entgehen, mußten Kinder diszipliniert werden. Engler faßt dieses als ein Element der zivilisatorischen Lücke auf, die "Politisierung des Privaten".(240) Die Privatsphäre wurde nicht nur permanent verletzt, sondern letztlich auch zerstört.

Schließlich wurden die erworbenen Kränkungen an die Kinder weitergegeben, denn die Eltern wuchsen im selben System auf, so daß sie dadurch bereits autoritär eingestellt waren. "Wenn es für die sozialen und politischen Kränkungen der Eltern keine angemessenen Abfuhrmöglichkeiten gibt, können sie nicht anders, als Kränkungen weiterzugeben. Erzwungener Gehorsam führt dazu, auch von Kindern Gehorsam und Anpassung zu verlangen. Angst und Unmut, Unzufriedenheit und mangelnde Selbstentfaltung der Eltern färben ab und werden 'vererbt'."(241)

Das Ergebnis der Sozialisation ist also Kontaktunfähigkeit, Unsicherheit, Unterwerfung, wenig Einfühlungsvermögen und Anpassung als Folge der Trennungserfahrungen und als Folge des politischen Systems. Einfühlungsvermögen aber ist ein wichtiger Bestandteil der Toleranz.

5.1.3.3 Die Feindbild-Genese in gestörten Eltern-Kind-Beziehungen

In den entfremdeten Eltern-Kind-Beziehungen steckt noch ein weiteres Problempotential, weil die Beziehung zwischen den beiden Elternteilen ebenfalls gestört ist. Die Defizite der Sozialisation wurden schon ausreichend beschrieben. Die Partnerwahl richtet sich in nicht wenigen Fällen auf eine unbewußte Kompensation dieser Defizite aus. "Das Grundproblem der scheiternden Beziehungen liegt in der illusionären Erwartung, daß der Partner oder die Partnerin endlich all das bereithält und erfüllt, was die Eltern versäumt haben. Und [...] wird mit großer Sicherheit ein neuer Beziehungspartner erwählt, der garantiert, daß es ähnlich enttäuschend wie bei den Eltern wird. So werden die Sehnsucht und die Hoffnung auf den anderen projiziert und zugleich alles dafür getan, daß sie nicht erfüllt werden."(242) Gerade die Familie hatte in der DDR einen recht großen Stellenwert, der seine Ursache u. a. in der Mangelerfahrung von Liebe und Zuneigung hat. Die hohe Scheidungsrate ist dagegen ein deutliches Indiz dafür, daß viele Ehen an übersteigerten Erwartungen zerbrochen sind. Zwischen 1960 und 1986 hat sich die Scheidungsrate verdoppelt. Bis zum Tod eines Ehepartners hielten 1960 noch 75% der geschlossenen Ehen, in den 80er Jahren waren dies nur noch 60%.(243) Diese Entwicklung ist ähnlich der westlicher Industriegesellschaften. Weil aber die Rahmenbedingungen in der DDR andere waren, muß man auch hier nach anderen Ursachen suchen.(244) Diese sind natürlich eine Folge der Bedingungen in der DDR. Dies hat Auswirkungen auf das Kind: Sofern ein Kind vorhanden ist, "pegeln sich [die infantilen Wünsche der Eltern, der Verf.] auf fixierende Mutter-Sohn- oder Vater-Tochter-Verhältnisse ein".(245)

Das Kind erfüllt in gestörten Beziehungen eine wichtige Funktion: es dient den enttäuschten Elternteilen als Ersatzpartner.(246) Da beide Eltern enttäuscht sind, ringen sie um die Gunst des Kindes. "Die unbefriedigten Wünsche der Eltern [...] richten sich unausweichlich auf das Kind wie auch auf jeden anderen, für eine solche Verschiebung geeigneten Dritten."(247) Damit das Kind eine positive Identität entwickeln kann, übernimmt es die von den Eltern zugewiesene Rolle, gleichzeitig ist es nur wertvoll, wenn es "besser" ist als ein Elternteil. Es ringt also um den zweiten Platz in der Familie. Folglich ist ein Elternteil für das Kind ein Feind. Dieser kann ständig wechseln, je nachdem, wer gerade auf dem zweiten Platz ist. "Das Kind ersetzt jeweils den einen Elternteil für den anderen als besseren Partner. Es muß also ständig fürchten, daß der [...] verdrängte Elternteil diesen Platz wieder einnehmen will und ihn deshalb von seinen 'Thron' zu stürzen versucht. Die Angst vor dem Verlust des 'Thrones' bzw. vor der Zerstörung durch den Rivalen oder die Rivalin, entspricht also letztlich der Angst vor dem Feind."(248) Mit diesem Prozeß wird dann auch der Grundstein für Feindbild-Denken gelegt, denn die Unterscheidung zwischen Gut und Böse erfährt hier seine inhaltliche Füllung. Somit "- auch wenn ein oder beide Elternteile äußerlich fehlen - lernt er [der Mensch von Anfang seines Lebens, der Verf.], soweit die Beziehung zwischen seinen Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen gestört ist, zwischen guten (zu ihm gehörenden) und bösen (nicht zu ihm gehörenden) Menschen, Verhaltensweisen, Eigenschaften usw. zu unterscheiden."(249) Dieses Dreieck kann sich um Großeltern u. a. erweitern. "Die wichtigste Konsequenz [...] ist das bewußte oder unbewußte Ringen jedes Familienmitglieds um eine Position im Bündnis und gegen die Position des ausgestoßenen Dritten."(250) Weil es ebenso in der Phantasie des Kindes möglich ist, daß die Eltern sich gegen das Kind "verschwören", muß es alles tun, "um nicht der ausgestoßene Dritte zu werden."(251) Dabei werden die "bösen" Anteile auf den Dritten projiziert.

Dieser hier beschriebene Prozeß wird noch durch die emotionalen Defizite der Kinder verstärkt. Kinder, die um jeden Preis geliebt werden wollen, betrachten einen Ehepartner noch eher als Konkurrenten, damit als "Feind".

Es gibt also auch einen – sozialisationsbedingt – innerfamiliären Prozeß der Feindbild-Genese, der außerhalb der Familie seine Fortsetzung gefunden hat. Dort wurde das Feindbild dann politisch definiert. In der Familie wurde die Grundlage für den psychologischen Prozeß gelegt.

5.1.4 Anknüpfungspunkte zu Fremdenfeindlichkeit und zum Rechtsradikalismus

Unter solchen gesellschaftlichen Sozialisationsbedingungen gibt es vielerlei Berührungspunkte zu den hier zu untersuchenden Einstellungsmustern.

Die erworbene Kontaktunsicherheit hängt eng zusammen mit fremdenfeindlichen Einstellungen: "Ausgeprägte Antipathie gegen Türken, Asylbewerber und Spätaussiedler äußern demnach diejenigen Deutschen, die sich [...] als eher mißtrauisch und kontaktunsicher beschreiben. [...] Im ganzen haben sie ein schwaches Selbstwertbewußtsein."(252) Kontaktunsichere haben ein größeres Bestreben, anderen gegenüber auf Distanz zu bleiben. Je fremdartiger der andere erscheint, desto stärker entwickeln sich die Abneigungen. Je mißtrauischer man ist, desto eher könnte man einem Flüchtling nur ökonomische Gründe seiner Flucht unterstellen.

Die Trennungserfahrungen haben auch einen Verlust des Einfühlungsvermögens zur Folge, was die Gewaltopfer zusätzlich zu spüren bekommen. Geringe Empathiefähigkeit schlägt sich bereits in der Akzeptanz der Fluchtursachen nieder: Trotz Hunger, Elend, Krieg und Not in der Dritten Welt wird nicht das Recht der Flucht akzeptiert, zumindest solange nicht, wie die Probleme des eigenen Landes gelöst sind, wie die individuellen Konsumbedürfnisse befriedigt sind.

Die Suche nach rechtsradikalen Gruppen (bzw. Gruppierungen ähnlicher Natur bezüglich der Gruppenstruktur) resultiert aus den sowohl frühkindlichen Trennungserlebnissen als auch aus den Erfahrungen der instrumentalisierten Beziehungen überhaupt. Rechtsradikale Gruppen vermitteln ein Gefühl der "echten" Kameradschaft und sind ein Hort der Geborgenheit. "Aber bei uns stehste nich so absolut alleene da [...]. Und da is Kameradschaft, det bedeutet sehr viel für mich. Wenn der eene jetzt Probleme hat, mit dem zu quatschen, ob man die klären kann, da is sone Gruppe schon nicht schlecht."(253)

Darüber hinaus haben die frühen Trennungserlebnisse existentielle Ängste zur Folge, die, weil sie nicht aufgearbeitet wurden, durch die vielfältigen Verluste nach der Wende (Sicherheit, Arbeitsplatz usw.) wieder aktiviert werden.(254) Diese, im Zusammenspiel mit dem Feindbild-Denken, liefern den Nährboden für rechtsradikale Orientierungen.

Eine 17jährige rechtsradikal Eingestellte beschreibt dies wie folgt: "Was uns zusammenhält ? Der Haß natürlich ! Gibt es was Besseres ? Haben wir doch gelernt hier in der DDR. Es gab immer jemanden, den wir hassen sollten. Die Kriegstreiber im Westen, die alten Nazis, die Feinde des Kommunismus. Alles Arschficker, die wir hassen sollten. Schon im Kindergarten haben sie mir ein Holzgewehr in die Hand gedrückt, und in einem Theaterspiel hab ich die Amis in Vietnam niedergemacht. Ich war so eine Bäuerin, die sich dem Vietcong anschließt. Dann kamen die Amis in den grünen Uniformen. Meine Mitschüler mußten sie wie die wilden Tiere spielen. Sie haben mein Dorf überfallen. Dann kamen wir, die roten Kämpfer, und haben alle niedergemetzelt. Das Dorf war befreit, die Kinder jubelten, die Zuseher jubelten. Hurrah, die gute Sache hat gesiegt."(255)

Die selbe Jugendliche äußert sich dann wie folgt:

"Ich will nicht, daß die [meint diverse Flüchtlinge, der Verf.] was bekommen, was mir zusteht. Meine Eltern haben auch in der Partei gearbeitet und an den Staat geglaubt. Jetzt sind sie arme Schweine, ohne Arbeit, ohne Geld und ohne Freunde. Die bekommen so wenig, daß sie nicht wissen, wie sie im Winter heizen sollen, und dann will mir einer erklären, ich sollte Verständnis haben für die armen Flüchtlinge! Wo sollen denn meine Eltern und die meiner Freunde hinflüchten ?"(256) Hier spiegelt sich die geringe Akzeptanz der Fluchtursachen wider, also geringe Empathie.

Die rechtsradikalen Jugendlichen suchen, nach dem die alten Organisationen wie z. B. FDJ aufgelöst worden sind, nach neuen Gruppierungen, um die Leere zu kompensieren:

"Was weist du von meiner Einsamkeit. [...] Ich habe alles durchgemacht, was in der DDR gab: Kindergarten, Jugendorganisation, Thälmann-Pionier, FDJ. Was für euch die große Unfreiheit war, [...] es war wenigstens etwas und nicht das totale Nichts, das wir dann bekommen haben."(257) Gleichzeitig stellten diese Organisationen noch einen Bezugs- und Anlaufpunkt für diese Jugendliche dar, wenn es Probleme gab: "Und wenn es ein größeres Problem war hat sich die Jugendorganisation eingeschaltet, der FDJ-Funktionär, irgendwer. Aber man ist nicht so abgesackt wie jetzt."(258) Diese Einsamkeitsgefühle werden in neuen Gruppen wieder zu kompensieren versucht. So berichtet die hier zitierte Jugendliche von einem 28jährigem FDJ-Funktionär, der jetzt "rechts" und in dieser Gruppe ist, weil er jemanden zum Reden habe.(259) Diese hier zitierte Jugendliche hält im übrigen kaum etwas von ihrer Familie, weil viele Familienmitglieder Mitläufer waren. Sie vermißt die Vorbild-Funktion der Eltern.(260) Ihr eigenes Mitläufer-Verhalten in den verschiedenen Organisationen problematisiert sie dagegen nicht.

"Jugendliche, die im Elternhaus keine verläßlichen Ansprechpartner finden, schätzen sich signifikant gewaltbereiter und ausländerfeindlicher ein [im Original kursiv]".(261) Solche Einstellungen können mit dieser Sozialisationserfahrung erklärt werden: Werte und Normen, die diesen Einstellungen entgegenstehen, müssen vermittelt werden. "Theoretische" Vorbilder, wie es sie insbesondere in der antifaschistischen Literatur in der DDR gegeben hat, sind dafür kaum geeignet. Ein wichtiger Grundsatz in der Pädagogik lautet, daß Belehrung gegen Erfahrung nicht ankommt. Ethische und am Humanismus orientierte Werte und Normen können nur durch praktisches Vorleben vermittelt werden. Eltern sind dafür am ehesten geeignet, zu diesen braucht man eine positive emotionale Beziehung. Die Sozialisationsbedingungen in der DDR standen dem entgegen.(262)

Durch die Sozialisation in der DDR gibt es eine erhebliche Anzahl derer, die keine positive Beziehung zum Elternhaus entwickelt haben. Fremdenfeindliche und rechtsradikale Einstellungen sind auch ein Ergebnis dieser spezifischen Sozialisationsbedingungen. Das bedeutet nicht, das negative Beziehungen zum Elternhaus grundsätzlich zu solchen Einstellungen führen. Eltern, die – aus welchen Gründen auch immer – ihren Bezug zu ihren Kindern verloren haben, können diese naturgemäß nicht erziehen. Es fehlt somit eine Instanz zur Korrektur. Diese Jugendlichen suchen dann auch andere Gruppierungen, um die Defizite auszugleichen.

Wie bereits erwähnt wurde, sank die Identifikation mit dem Marxismus-Leninismus vor allem ab Anfang der 80er Jahre deutlich,(263) was sich im folgenden Schaubild an der sinkenden Bereitschaft zur Übernahme gesellschaftlicher Pflichten ausdrückt:

Schaubild 10: Lebensorientierungen 18/19jähriger Lehrlinge in der DDR 1975-1990

neues Fenster: Lebensorientierungen 18/19jähriger Lehrlinge in der DDR 1975-1990

Quelle: Förster et al.: a. a. O., S. 171, Angaben der völligen Zustimmung in Prozent

Deutlich zu erkennen ist ebenfalls der Anstieg der Bedürfnisse nach Abenteuer, Luxus und Geselligkeit bereits in den Jahren 1975-1985.

Die Suche nach Abenteuern ist als ein Ausbruchsversuch aus dem Konformismus, der Tristesse des verordnetem Sozialismus, zu deuten, der Wunsch nach Geselligkeit spiegelt die Suche nach der Nische wider, in der freier gedacht werden kann als in der Öffentlichkeit. Die Suche nach wirklichen Freunden ist auch die Suche nach positiven Beziehungen. Orientierung nach Mode und Luxus zeigt, wie statusorientiert die ostdeutsche Jugend ab den 80er Jahren wurde. Dabei vertreten vor allem rechts orientierte Jugendliche materialistische Werte: "Die mit Abstand größten Unterschiede in den Lebensorientierungen treten beim Vergleich der politisch Rechten und Linken hervor. Rechte [...] vertreten nachdrücklicher als Linke [...] ihre Ansprüche auf Lebensgenuß und besonders ihre materiellen sowie egozentrischen Interessen. [...] Zwischen Linksaußen und Rechtsaußen spitzen sich diese Unterschiede weiter zu."(264)

Dies bedeutet schließlich, daß die Ursache der Konsumansprüche bei rechts orientierten Jugendlichen auch in der Sozialisation in der DDR zu finden ist. Der Materialismus ist ein Ergebnis des Mangels, der in der DDR nicht kompensiert werden konnte. Der Ausländer, der angeblich den Deutschen die Arbeit wegnimmt, steht den Wohlstandsorientierten dabei natürlich im Wege, wobei dieser Effekt erst nach der Wende auftritt. Insofern gibt es natürlich auch ökonomische Ursachen fremdenfeindlicher Einstellungen. Da das Zulassen von Gefühlen und damit der Umgang mit ihnen nicht geübt wurde, kann auch Sozialneid nicht zugelassen werden. Dies kann ein Grund dafür sein, daß Fremde stärker abgelehnt werden. Es fällt grundsätzlich schwer zu akzeptieren, daß Fremde ausschließlich Leistungsempfänger sein können.

Die oben erwähnte Selbstentfremdung führt ebenfalls zu erhöhter Gewaltbereitschaft, weil die Fähigkeit fehlt, in sich "hineinzuhören", so daß selbst Kants kategorischer Imperativ hinfällig wird. "Sehr bedenklich erschien uns die psychische Abstumpfung, die bei einer Reihe von gewaltakzeptierenden und -ausübenden Jugendlichen deutlich wurde. Sie ließen erkennen, daß sie sich kaum darüber Gedanken machen, mit welchen Folgen Gewaltopfer zu rechnen haben. Die Risiken, die bei Auseinandersetzungen für die eigene Person gegeben sind, werden dabei bewußt hingenommen. Gewaltakzeptanz richtet sich somit (indirekt) auch gegen die eigene Person."(265) Hierin ist also eine weitere sozialisationsbedingte Quelle der Gewaltanwendung zu finden. Jugendliche in der DDR waren ohnehin stärker militaristisch und damit gewalttätiger geprägt, die Gefühlsabstumpfung trägt ebenfalls dazu bei, daß Gewalt hemmungsloser angewendet werden kann.

5.1.5 Zusammenfassung

Die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit erfolgte durch eine staatlich organisierte Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Hierfür mußten die Kinder und Jugendlichen lange von den Eltern getrennt werden. Es kam zu Bindungsverlusten und Erosionserscheinungen in der Familie. Gleichzeitig war die Sozialisation ausgerichtet auf ein starkes Denken in eindeutigen Freund-Feind-Kategorien, Militarismus und Gewalt.

Da Widersprüche zwischen offizieller Ideologie und den realen Gegebenheiten zu stark waren, diese aber nicht thematisiert werden konnten, kam es zu einer Spaltung in zwei "Ichs". Dies führt zu Vertrauensverlusten. Außerdem mußten Kinder innerhalb der Familie diszipliniert werden, damit sich nicht aus dem eng gesteckten sozialistischen Rahmen fallen. Anderenfalls hätten staatliche Organisationen die Disziplinierung übernommen.

Um Repressionen ertragen zu können und um den überforderten Eltern gerecht werden zu können, mußten Emotionen unterdrückt werden, was schließlich Abstumpfung und Selbstentfremdung zur Folge hat. Dies schlägt sich nieder in geringerer Empathiefähigkeit und Gleichgültigkeit anderen gegenüber.

Die familiären Bindungsverluste führten nicht nur zu einer höheren Gewaltbereitschaft, sondern auch zur Suche nach Kompensation der emotionalen Defizite. Diese können beispielsweise in rechtsradikal orientierten Gruppierungen gefunden werden. Diese kaum vorhandene Familienbindung ist bei rechtsradikalen Jugendlichen häufig zu beobachten.(266)

Sowohl die prinzipiell vorhandene Gewaltbereitschaft als auch das Denken in Freund-Feind-Kategorien ist primär ein Ergebnis der allgemeinen Sozialisation, nur sekundär ein Resultat der Indoktrination durch die offizielle Ideologie. Diese wurde nur begrenzt verinnerlicht. Feindbilder konnten verinnerlicht werden, weil die Grundlagen in der allgemeinen Sozialisation (also Feindbild-Genese in entfremdeten Familienbeziehungen) gelegt worden sind, also im Zusammenspiel der verschiedenen Sozialisationsinstanzen. Dieses Zusammenspiel war natürlich nicht in jedem Fall ein staatlich gelenktes. Keine Diktatur hat alles unter seiner Kontrolle. Die hier beschriebene Feindbild-Genese in der Familie war das Ergebnis der auf der Familie einwirkenden äußeren Faktoren.

Diese Sozialisationsbedingungen erklären noch nicht die Entstehung der Vorurteile. Sie sind aber stark flankierend wirkend auf den Umgang mit Fremden, vor allem erklären sie die hohe Gewaltbereitschaft ostdeutscher Jugendlicher. Das nächste Kapitel veranschaulicht die Genese fremdenfeindlicher Vorurteile in der DDR.

5.2 Institutionalisierte soziale Distanz zu Fremden in der DDR

5.2.1 Die Wohn- und Arbeitssituation der Ausländer

Es gab drei Gruppen von Ausländern in der DDR: sowjetische Soldaten und ihre Angehörigen, ausländische Studenten und ausländische Arbeitnehmer (Gastarbeiter). Die Letztgenannte stellte (von sowjetischen Armee-Angehörigen abgesehen) die größte Gruppe dar.(267) Die Gruppe der Gastarbeiter differenziert sich in drei Gruppierungen: ausländische Arbeitnehmer, die durch bilaterale Verträge zeitlich befristet ins Land gekommen sind (Vertragsarbeitnehmer) und Arbeitnehmer, die durch Eigeninitiative der Betriebe zeitlich befristet gearbeitet haben. Eine weitere Gruppierung stellen noch Polen dar, die als Pendler in grenznahen Gebieten in der DDR gearbeitet haben. Für den hier zu betrachtenden Zusammenhang reicht es aus, nur die Gruppe der Vertragsarbeitnehmer zu betrachten, weil diese Gruppe diejenige war, mit der es die meisten "Kontakte" im Alltag gab, weil sie eben nicht wie die polnischen Pendler nach der Arbeit zurück gefahren sind. "Kontakte" kann nur in Anführungszeichen gesetzt werden, weil die "Kontakte" sich qualitativ und quantitativ auf einem sehr niedrigen Niveau befanden, eine auf Integration zielende Ausländerpolitik wurde in der DDR nicht durchgeführt. Vertragsarbeitnehmer waren diejenigen, die am meisten diskriminiert wurden.

Zunächst war die Idee, ausländische Arbeitnehmer zeitlich begrenzt in der DDR arbeiten zu lassen, durchaus positiv. Es ging darum, die Länder innerhalb des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) durch einen Arbeitskräfteaustausch anzunähern, den Wirtschaftsraum des RGWs insgesamt zu stärken.(268) Außerdem kamen Arbeitskräfte aus sozialistisch orientierten Entwicklungsländern ins Land. Dies war in der Idee des proletarischen Internationalismus angelegt. Tatsächlich waren noch 1988 die meisten Ostdeutschen überzeugt, daß die Vertragsarbeitnehmer aus Solidarität in der DDR arbeiten konnten.(269)

Diese Situation hat sich Ende der 70er/Anfang 80er Jahre grundlegend gewandelt, insbesondere seit den 80er Jahren. Die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer verfolgte zunehmend das Ziel, die schlechte Lage am Arbeitsmarkt auszugleichen, denn zu viele Deutsche hatten inzwischen die DDR verlassen. Die Vertragsarbeitnehmer wurden nicht nur bewußt eingesetzt, um den heimischen Arbeitsmarkt zu entlasten (was legitim ist, die Bundesrepublik verfuhr ebenso), sondern auch (im Fall Mosambiks) Schulden des Partnerlandes abzubauen.(270) Die Ausländerbeschäftigung war also sehr eng mit wirtschaftlichen Erwägungen verknüpft.

Die ersten nennenswerten ausländischen Arbeitnehmer kamen in den 60er Jahren in die DDR: 1966 wurde mit Polen das sg. "Pendlerabkommen" geschlossen, es folgten weitere Abkommen mit Ungarn 1967 und 1972, mit Algerien 1974, mit Kuba 1978, mit Mosambik 1979, mit Vietnam 1980, mit der Mongolei 1982 und mit Angola 1985.(271)

Insgesamt lebten 1989 ca. 192000 Ausländer in der DDR, somit waren ungefähr 1,2% der Bevölkerung in der DDR Ausländer, Sowjets sind nicht eingerechnet. Der Großteil stammte aus Vietnam (ca. 60000), Polen (ca. 52000), Mosambik (ca. 15000), Ungarn (ca. 13000), Kuba (ca. 8000) und Bulgarien (ca. 5000).(272)

1980 wurde der Arbeitseinsatz durch eine Rahmenrichtlinie einheitlich geregelt, gültig für Arbeitnehmer aus außereuropäischen sozialistischen Staaten.(273)Diese Rahmenrichtlinie war teilweise nur theoretischer Natur, weil nicht alle Elemente realisiert worden sind. Außerdem galt diese (siehe den Abschnitt "Geltungsbereich") ohnehin nur für Nicht-Europäer, die zu Arbeitnehmern zweiter Klasse wurden. "Die Vertragsarbeitnehmer aus den europäischen sozialistischen Staaten und Kuba wurden zumeist besser gestellt, als ihre Kollegen aus den sozialistisch orientierten Entwicklungsländern."(274) Ihrer Aufgabe entsprechend waren die Vertragsarbeitnehmer jung (54% waren zwischen 20 und 39 Jahre alt).(275)

Kontakte gab es in der Regel nur am Arbeitsplatz. Wohnen mußten die Vertragsarbeitnehmer von der deutschen Bevölkerung getrennt in Wohnheimen. Der Zugang war streng reglementiert: Nur die Bewohner durften sich dort aufhalten, Besucher mußten sich anmelden. Dies ging sogar soweit, daß an den Wohnheimeingängen ein Schild aufgestellt war, das signalisierte, daß der Zutritt streng verboten ist.(276)

Die Heimleitungen hatten auch das Recht, die Zimmer zu betreten und zu durchsuchen, teilweise gab es sogar "überfallartige, nächtliche Zimmerkontrollen".(277)

In Wohnungen, die für normale Familien ausgelegt sind, mußten bis zu elf Personen wohnen, "wie in Tierkäfigen".(278) Solche desolaten Wohnverhältnisse waren zwar die Ausnahme, doch zeigen sie deutlich den Umgang mit den Vertragsarbeitnehmern in der DDR, die Bezeichnung "ghettoähnlich" ist zwar zugespitzt, aber durchaus gerechtfertigt. Sie trifft auf ca. 60% der Vertragsarbeitnehmer zu.(279) Diese Bezeichnung meint eine durch die Wohnbedingungen herbeigeführte Isolation: "Die ausländischen Arbeitnehmer wurden in separaten Gemeinschaftsunterkünften einquartiert und damit auch sozial auf Distanz gehalten. [Hervorhebung durch den Verf.]"(280)

Kontakte gab es nicht nur wegen der Wohnverhältnisse kaum: Sprachliche Probleme trugen ebenso zur Abkapselung der Ausländer bei. Ab 1985 waren Sprachkurse, die sich nur auf rudimentäre Grundkenntnisse (für berufliche Grundkenntnisse, zum Einkaufen, für den Fahrweg) begrenzten, eher die Regel, besonders bei außereuropäischen Vertragsarbeitnehmern. Für den Erwerb der notwendigen Sprachkenntnisse und zur beruflichen Weiterqualifizierung waren Freistellungen vorgesehen. "Tatsächlich sollen Freistellungen nach Auskunft von Vertragsarbeitnehmern jedoch nur selten möglich gewesen sein."(281)

Die Vertragsarbeitnehmer wurden darüber hinaus auch am Arbeitsplatz diskriminiert. Häufig mußten sie die von Deutschen unbeliebte Arbeit verrichten. Sie mußten häufiger in unbeliebte Schichten, ihre Pausen wurden stärker reglementiert, Beschwerden häufig weniger beachtet.(282)

Wegen der Schichtarbeit, dem geringeren Lohn, der zum Teil noch ins Heimatland abgeführt werden mußte, konnten die Vertragsarbeitnehmer nur selten am kulturellen Leben teilnehmen, ein weitere Grund für die Kontaktarmut.

Die Vertragsarbeitnehmer betrachteten ihre Arbeit als Möglichkeit, ihre Situation im Heimatland zu verbessern, viele wollten ihre Familien unterstützen, was natürlich schon während des Aufenthaltes in der DDR geschehen mußte. Die Überweisung des Lohnes wiederum brachte Nachteile durch Gebühren, Umrechnungsverluste usw. Aus diesen Gründen haben viele Vertragsarbeitnehmer ihren Lohn in Waren "angelegt", die dann ausgeführt worden sind.(283) Es kam zu sg. "Hamsterkäufen", bestimmte Produkte wie z. B. Fahrräder, Fernseher und Nähmaschinen wurden mehrmals ausgeführt, die dann natürlich dem ohnehin schon knappen DDR-Markt fehlten.

Der Lohn und auch die Ausfuhr bestimmter Produkte waren abhängig von der Normerfüllung. Die Ausfuhr von Mopeds konnte Vietnamesen untersagt werden, wenn sie durch Krankheit die Arbeitsnorm nicht erfüllen konnten.(284) Die Erfüllung der Arbeitsnorm war ohnehin nicht einfach: Die Einarbeitungszeiten waren nicht selten zu knapp bemessen. Wenn im Anschluß daran zu unproduktiv gearbeitet wurde, wurde dies entsprechend vom Lohn abgezogen.(285)

Außerdem durften die Vertragsarbeiter die DDR nur für Heim-Urlaubsreisen verlassen, ihre Pässe mußten abgegeben werden.

Spätestens ab 1985 waren die Vertragsarbeitnehmer ein reiner Produktionsfaktor, um die wirtschaftliche Lage der DDR zu verbessern. Sie wurden massiv ausgegrenzt, Kontakte gab es kaum. Lediglich engagierte Vertreter der Kirche und anderer sozialer Gruppen, die in der DDR ohnehin unerwünscht waren, bemühten sich um eine Verbesserung der Lage der Ausländer. Die Mehrzahl der Deutschen unterhielt keine Kontakte zu Ausländern.

Diskriminierungen gab es aber nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im Alltag. Ein Vietnamese berichtet, daß Busfahrer sich geweigert hätten, Vietnamesen mitzunehmen; Schulen hätten es abgelehnt (aus Angst vor Krankheiten), Vietnamesen in ihren Speisesälen essen zu lassen.(286) Auch wenn solche extremen Verhaltensweisen eher die Ausnahme waren, so zeigt sich insgesamt, daß die propagierte Völkerfreundschaft selten in entsprechende Verhaltensweisen umgesetzt wurde. 59,8% der befragten Ausländer in Ostdeutschland gaben an, manchmal beschimpft oder beleidigt worden zu sein, 12,8% widerfuhr dies öfter. 31,6% gaben an, manchmal in Geschäften benachteiligt worden zu sein, 12% öfter.(287)Über Diskriminierungen am Arbeitsplatz konnten "nur" 23,6% der befragten Ausländer berichten.(288)

Außerhalb der Arbeitswelt gab es zwar Festivitäten der ausländischen Vertragsarbeitnehmer, allerdings war ihr Besuch seitens der Deutschen sehr unterschiedlich. Berücksichtigt man noch, daß Reisen ins Ausland stark eingeschränkt wurden, gab sehr wenig Kontakte zu anderen Kulturkreisen. Im Ausland waren die DDR-Deutschen zudem häufig als Deutsche zweiter Klasse angesehen, weil die Westdeutschen die begehrte harte Währung besaßen.

Angesichts dieser Tatsachen verwundert es kaum, daß alles, was nicht "deutsch" ist, als fremd wahrgenommen wird. Bei einem Teil der Bevölkerung resultiert daraus Ablehnung des bzw. der Fremden.

5.2.2 Die Folgen der Ausgrenzung

5.2.2.1 Soziale Distanz und Vorurteile

In dieses Vakuum, verursacht durch die Ausgrenzung, konnten nun Vorurteile eindringen. "In dem durch die verordnete Ausgrenzung der Fremden und durch die öffentliche Tabuisierung ihrer Existenz geschaffenen sozialen Vakuum siedelten Gerüchte und Argwohn, wucherten Mißtrauen, Angst und Haß."(289) Denn das "Nichtwissen schafft im Umgang mit Ausländern Unsicherheit, man bleibt auf Distanz, welche nur sehr schwer zu überwinden ist."(290)

Einige dieser Vorurteile sind (psychologisch betrachtet) projektiver Natur (vgl. die Definition im Abschnitt 3.1.), d. h. die eigenen Wünsche bzw. Defizite werden auf andere projiziert: 32,6% der Ostdeutschen glaubten, daß die Vertragsarbeitnehmer bei der Wohnungsvergabe bevorzugt worden sind, rund 70% glaubten, daß sie im Besitz frei konvertierbarer Währung seien und häufiger in das westliche Ausland reisen könnten.(291) Gleichzeitig aber gaben 63,4% der befragten Ostdeutschen an, keine Kontakte mit Ausländern außerhalb der Arbeit zu haben. Von den verbleibenden 36,6% hatten 59,5% diese Kontakte seltener als einmal im Monat.(292)

Solche Projektionsvorgänge haben für das Individuum eine entlastende Funktion: Verantwortlich für die eigenen Defizite sind die Ausländer selbst, aber nicht mehr der Einzelne, der diese Politik in der Diktatur mitgetragen hat. "Daß der einzelne Mensch um so weniger versucht, sich mittels negativer Projektionen an anderen abzureagieren, je mutiger er persönliche Schuldkonflikte aufzuarbeiten lernt, ist aus der Psychoanalyse wohlbekannt."(293)

Ebenso wurden Ausländer oft für die Warenknappheit verantwortlich gemacht, da sie angeblich die Läden leerkauften.(294) Dies kann zwar einer eigenen empirischen Erfahrung entsprechen, doch auch hier zeigt sich eben die Unkenntnis der Ursachen.

Eine Urteilsschrift faßt dies zusammen: "Er [ein angeklagter Jugendlicher, der Verf.] habe bereits zu DDR-Zeiten eine solche Haltung gegenüber Ausländern eingenommen, da diese immer über Devisen verfügt, bessere Kleidung gehabt und Zugang zu Intershops, außerdem eine große 'Klappe' gehabt hätten."(295)

Nach der Vereinigung kann sich diese in der DDR erworbene Grundhaltung weiter radikalisieren: Zuvor gab es fast ausschließlich "nur" Ausländer, die gearbeitet haben, die die eigene deutsche Wirtschaft also unterstützt haben. Nun müssen die Ostdeutschen noch (die Westdeutschen aber auch) akzeptieren, daß Fremde sich in der Bundesrepublik aufhalten dürfen, ohne zu arbeiten (als Asylbewerber), denn die Zahl der Asylberechtigten in der DDR war äußerst gering. Man muß lernen zu akzeptieren, daß es Fremde gibt, die Leistungen beziehen können, ohne etwas dafür zu tun, ebenso wie Leistungen bezogen werden können, obwohl es vielen Deutschen ebenfalls wirtschaftlich schlecht geht.(296)

Außerdem ist die Arbeitslosigkeit deutlich gestiegen, so daß Ausländer am Arbeitsplatz nun Konkurrenten sind. Trotzdem spielen Vorurteile eine große Rolle: Die Ausländer, die auf solche Ablehnung stoßen (Flüchtlinge aus der Dritten Welt, Sinti und Roma usw.), bekommen ohnehin keine Arbeit wegen zu geringer Qualifikation (allenfalls als Schwarzarbeiter auf Baustellen). Eine direkte Arbeitsplatzkonkurrenz liegt selten vor, zumal Asylbewerber ohne weiteres nicht arbeiten dürfen. Solche Argumentationsmuster sind allerdings in der Gesellschaft vorhanden und werden dann von fremdenfeindlich und rechtsradikal Eingestellten aufgegriffen.

5.2.2.2 Soziale Distanz und Gewalt bei ostdeutschen Jugendlichen

Der Umgang in der DDR mit Ausländern erklärt auch die hohe Gewaltbereitschaft in den neuen Bundesländern.

Wer Ausländer ablehnt, der ist verstärkt gewaltbereit und ebenso ablehnend gegenüber Kontakten zu Ausländern.(297) Seit 1990 hat die Ausländerfeindlichkeit insgesamt weiter zugenommen, gleichzeitig aber bei den "eher linken" abgenommen. Demzufolge ist der Anstieg der "Ausländer-Aversion in der letzten Zeit [...] eindeutig rechtslastig."(298)

Die soziale Distanz (299) weist eine ähnliche Entwicklung auf wie die Ablehnung von Ausländern im allgemeinen: "Während sie bei Jugendlichen, die sich links von der Mitte oder in der Mitte einordnen, gleichstark abgenommen hat, hat sie bei eher rechtsorientierten und besonders bei den Rechtsaußen [...] sogar zugenommen. So gesehen ist die Abnahme der sozialen Distanz zu Ausländern allein den links- und an der Mitte orientierten Jugendlichen zuzuschreiben. [...] Zugleich weist es auf die gewachsene Aversion [...] hin, auch als Ausdruck ihrer zunehmenden Radikalität."(300) Die soziale Distanz zeigt sich in Interviews häufig durch negative Einstellungen zu Liebesbeziehungen Deutsche - Ausländer, z. B.: "Es ist eine Schande, daß Deutsche Ausländer heiraten dürfen.", "Und ein solch dreckiger Ausländer wollte mit mir schlafen. Er hätte mich fast gezwungen", "Ausländer belästigen außerdem deutsche Frauen, Kinder und auch Männer"(301) u. ä.

Wie aus dieser Untersuchung weiter hervorgeht, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Gewaltbereitschaft gegen Ausländern und die Kontakthäufigkeit: "Je weniger Kontakte mit und je deutlicher die Abneigung gegen Ausländer ist, desto eher neigen Jugendliche zur Gewalt gegen Ausländer."(302)

Ähnliches gilt für das Bundesland Brandenburg bezüglich der sozialen Distanz, denn: "Nur etwa ein Drittel würde sich freiwillig vorbehaltlos neben einen Ausländer setzen. Diese Berührungsängste beruhen wahrscheinlich nur selten auf persönlicher, unangenehmer Erfahrung [im Original kursiv]".(303)

Da die Distanzbestrebungen im rechten Spektrum zugenommen haben, Gewaltbereitschaft eng zusammenhängt mit den Distanzbestrebungen, ist hier ein kausaler Zusammenhang für den Anstieg der Gewalttaten seit 1990 zu finden.

5.2.3 Soziale Distanz und Gewalt: ein Erklärungsansatz

Die soziale Distanz hat aber noch weitreichendere Auswirkungen auf die Umgangsweise miteinander:

"Verantwortung, das Grundelement moralischen Verhaltens, entsteht aus der Nähe des Anderen. Nähe bedeutet Verantwortung und Verantwortung ist Nähe. [...] Die Aufhebung dieser Verantwortung [...] ist nur möglich, wenn Nähe durch physische oder geistige Trennung ersetzt wird. Der Gegensatz zu Nähe ist soziale Distanz. Das moralische Attribut von Nähe ist Verantwortung; das moralische Attribut sozialer Distanz ist fehlender moralischer Bezug oder Heterophobie. Verantwortung verschwindet, sobald Nähe nicht mehr besteht, und kann sogar durch Ressentiments ersetzt werden [Fette Hervorhebungen durch den Verf.]."(304) Verantwortung und damit Nähe ist für Bauman "eine universelle Abscheu vor Mord, die Hemmung, dem Mitmenschen Leid zuzufügen, und den Impuls, dem in Not Geratenen zu helfen."(305)

Dieser Mechanismus ist zumindest in Hoyerswerda und in Rostock-Lichtenhagen außer Kraft gesetzt worden, in dem physische und psychische Trennung die Verantwortung ersetzt hat, aber nicht nur dort. Die Folgen der sozialen Distanz bekommen Fremde in Form von Anfeindungen täglich zu spüren.

Die Verantwortung für den Anderen ist reduziert, was eine Folge des latenten Ausgrenzungsprozesses, also besondere Umgangsweise, spezielle Gesetzgebung, "Ghettoisierung" usw., ist, denn erst die spezielle Umgangsweise mit einer Minderheit macht sie als Minderheit bewußt. Denn beachtet werden muß, "daß Vorurteile gesellschaftliche Einflüsse reflektieren, die in Wechselwirkung mit individuellen Mechanismen stehen. Zu den gesellschaftlichen Einflüssen gehört beispielsweise der allgemeine Umgang einer Mehrheit mit 'ihren' Minderheiten".(306)

Die fehlenden Partizipationsmöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben haben Auswirkungen auf die Empathiefähigkeit der "Einheimischen", d. h. in diesem Fall der Ostdeutschen, für Ausländer. "Durch die Definition wird die diskriminierte Gruppe unterschieden und ausgegrenzt [...]. Allein aufgrund der Definition fällt die stigmatisierte Gruppe einer Sonderbehandlung anheim, die nicht an den für 'normale' Bürger geltenden Maßstäben zu messen ist."(307)

Es fällt dann leichter, Gewalt zu tolerieren bzw. sogar aktiv Leid zuzufügen, was Milgram mit seinen Experimenten nachgewiesen hat, sofern man diese auch soziologisch deutet.(308) Voraussetzung hierfür ist soziale Distanz, die eben staatlich durch Ausgrenzung erzeugt wurde und im Vergleich mit der Bundesrepublik eine höhere war.(309)

Milgram wies in seinen Experimenten nach, daß die Skrupel, anderen Menschen Schmerz zuzufügen, ansteigen, wenn die physische Distanz geringer ist.(310) "In der Fernraum-Anordnung und in geringerem Maß in der akustischen Rückkoppelungs-Anordnung besitzt der Schmerz des Opfers für die Versuchsperson einen abstrakten, entfernten Charakter."(311) Die Tatsache, daß anderen Schmerz zugefügt wird, "diese Tatsache wird wahrgenommen, aber nicht gefühlt."(312) Bei räumlicher Nähe und bei Berührungsnähe sinkt die Bereitschaft, anderen Schmerz zuzufügen, deutlich. Bei physischen Kontakten steigt somit das Einfühlungsvermögen. Diese Ergebnisse sind auf andere soziologische Prozesse übertragbar.

Soziale Distanz ist die "psychische Variante" der physischen Trennung bei Milgram.(313) Soziale Distanz schwächt das Einfühlungsvermögen, der Andere wird mit negativen Attributen versehen, so daß Gewalt skrupelloser angewendet werden kann. Vorsichtiger formuliert: die Existenz sozialer Distanz erleichtert die Gewaltanwendung, zumindest die Akzeptanz der Gewalt. Sozialisationsbedingt ist das Einfühlungsvermögen bereits eingeschränkt.

Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen haben gezeigt, daß sehr viele Erwachsene die gewalttätigen Jugendlichen ermutigt haben.

Diese fremdenfeindlichen Teile der Gesellschaft stellen eine wichtige Instanz dar, auf die sich Jugendliche berufen können, um ihr Handeln zu legitimieren. Jugendliche berufen sich oft darauf, in die Tat umzusetzen, was andere denken: "[W]ir tun nur, was die ["die fetten Spießer", der Verf.] gerne tun würden.(314) "Wie zeigen den andern, daß sie sich nicht trauen, den Mund aufzumachen, daß wir's bringen, daß wir uns gegen das Ausländerproblem einsetzen."(315)

Ein 65jähriger ostdeutscher Rentner beschreibt seine Beteiligung an Ausschreitungen wie folgt: "Ich [...] habe geklatscht, habe ihnen zugerufen: Gut so! [...] Schlagt sie tot! [...] Aber die Jungs waren einfach toll. [...] Haben einfach hingelangt. Haben endlich mal den Mund aufgemacht. Wir waren doch immer so vorsichtig, haben uns doch nie gewehrt. Die jungen Menschen sind heute viel freier als wir. Die lassen sich nichts mehr gefallen."(316)

Fremdenfeindliche Teile der Gesellschaft sind "die in manchen Orientierungsmustern von Jugendlichen aufscheinenden Affinitäten oder Zustimmungen gegenüber rechtsextremistischen Ideologemen als Kristallisationen von Gesellschaftsbildern [...], die in zentralen politischen und sozialen Bereichen der Gesellschaft entstehen und nicht an ihren 'Rändern'."(317) In diesem Zusammenhang ist auch wichtig festzuhalten, daß der Rückgang der Gewalt nach den Lichterketten im November 1992 (nach dem Brandanschlag in Mölln) erfolgte. Den potentiellen Tätern fehlte dann der Rückhalt in der Bevölkerung bzw. es war offensichtlich, daß der Rückhalt kein so großer war wie ursprünglich angenommen. Fremdenfeindliche Gewalt ist nicht nur ein Ergebnis einer gewaltbereiten Minderheit, sondern auch einer zu passiven Mehrheit.(318)

Für die Jugendlichen sind nicht nur die fremdenfeindlichen Teile der Gesellschaft Berufungsinstanz und "Auftraggeber", in der die meisten das nicht ausführen, was sie (angeblich) denken. "Auftraggeber" ist auch der durch (angebliches) Denken und Nicht-handeln entstehende Widerspruch.(319) Das gewalttätige Handeln der Jugendlichen ist auch eine temporäre Auflösung des Widerspruchs. Dieser Widerspruch muß im Zusammenhang mit der Vorurteilspsychologie betrachtet werden: Oft ist die Ambiguitätstoleranz bei Vorurteilsvollen nur schwach ausgeprägt.(320)

Dies ist ein Resultat der DDR-Sozialisation. Wie bereits gezeigt wurde, ist ein Denken in Freund-Feind-Kategorien, also ein polarisierendes Denken, bei ostdeutschen Jugendlichen stärker ausgeprägt. Es wird also eher in Kategorien gedacht, die sich gegenseitig ausschließen. Deswegen können Widersprüche zwischen Einstellungen und Verhalten nicht ohne weiteres akzeptiert werden.

Bisher wurde gezeigt, daß physische Gewalt eher ein Mittel in den neuen Bundesländern ist und daß der Umgang mit Ausländern in der DDR durch die Produktion sozialer Distanz den Einsatz physischer Gewalt erleichtert. Daß Gewalt als ein grundsätzliches Mittel angesehen wird, liegt in der Sozialisation begründet. Offen ist noch die Frage, warum Fremde das Ziel dieser Gewalt sind. Im Zusammenhang mit der in der DDR produzierten sozialen Distanz zu Fremden kann zunächst folgende Antwort gegeben werden:

Bei lokalen Konflikten wie in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda spielen Adaptionsprobleme eine Rolle. Fuchs/Roller stellten einen "statistischen Ausreißer" fest bei der Ablehnung von Ausländern in Italien.(321) Zum Zeitpunkt der Befragung war die ablehnende Haltung zu Ausländern außergewöhnlich hoch. Die Verfasser führen dies auf die damalige Einwanderungswelle albanischer Flüchtlinge zurück.

Ähnliches kann eben auch für Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda gelten: Die Anwohner waren mit der Errichtung der Wohnheime überfordert. Die Probleme der Anwohner (Arbeitslosigkeit, Unsicherheiten usw.) trugen zusätzlich dazu bei, daß der Konflikt eskalieren konnte. Andererseits aber war die Zustimmung zur Gewalt außergewöhnlich hoch, so daß die sozio-ökonomischen Erklärungsansätze nicht ausreichend sind. Erklärungsbedürftig ist noch die grundsätzliche Bereitschaft, Gewalt gegen Fremde anzuwenden, Fremde überhaupt abzulehnen. Diese grundsätzliche Bereitschaft äußert sich gegenwärtig: Die Zahl der Gewalttaten mit fremdenfeindlichen Hintergrund in Brandenburg ist außergewöhnlich hoch, ohne daß es lokale Konfliktherde durch Asylbewerberheime gibt. Das verdeutlicht eine grundsätzlich ablehnende Haltung, denn Vertragsarbeitnehmer wurden hauptsächlich in den südlichen Industrieregionen der DDR eingesetzt.(322) Es gab deutlich weniger Ausländer in den nördlichen Verwaltungsbezirken der DDR, den heutigen Bundesländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Gerade dort ist die Anzahl der Gewalttaten deutlich höher. In Nordrhein-Westfalen ist die fremdenfeindliche Gewalt ebenfalls sprunghaft angestiegen. Dort wurden die meisten Asylbewerber untergebracht. Befürchtete Konkurrenz als Auslöser der Gewalt scheint für die alten Bundesländer eher eine Erklärung zu sein.

Die Ablehnung der Fremden in der DDR war grundsätzlicherer Natur, wie aus den empirischen Ergebnissen zu erwarten war. Ein älterer Mann äußert sich in Rostock-Lichtenhagen folgendermaßen: "Ich bin nicht ausländerfeindlich, aber wie die sich hier bewegen, das geht doch gegen jede deutsche Norm. Da sind wir Deutsche ganz anders. Für Sauberkeit, für Ehrlichkeit."(323) Hier verstoßen Fremde gegen deutsche Normen. Alte deutsche Normen wurden in der DDR stärker konserviert. Ursache hierfür war der Rückgriff der DDR auf Preußen, weswegen die DDR der "deutschere" Staat war.(324)

Eine ältere Dame äußert sich folgendermaßen: "Ein wehes Gefühl ist es, wenn man sieht, daß Menschen lagern wie Vieh im Grunde genommen. Wie Vieh im Grunde genommen lagern sie dort und man muß das mit sehen, was uns auch unbekannt ist: dieses in den Ecken sitzen und 'rumlagern."(325) Solche Sätze sind von Älteren häufig zu hören, Fremde verstoßen mit ihrer anderen Lebensart nicht nur gegen sg. "deutsche" Normen, sondern ihre Lebensweise ist grundsätzlich etwas unbekanntes.

Der bereits zitierte 65jähriger Rentner aus Ostdeutschland (der Applaudeur) sagt folgendes aus: "Ich will wieder normal in unserem Park spazierengehen, ohne daß ich die in unserem Park herumliegen sehe. Ich will keine Grillplätze in den Parks, keine Massenaufläufe auf den Wiesen, wenn die mit Kind und Kegel sich dort niederlassen. All das ist mir zuwider, ich will es nicht, und ich hab ein Recht darauf, meine Stadt sauber zu sehen."(326)

Es geht um eine grundsätzlich ablehnende Haltung von Fremden. Präziser muß bei solchen fundamentalen Einstellungen von "Abwehr" gesprochen werden. Der Fremde stört die Ordnung. Die oben dargestellten zunehmenden Distanzbestrebungen bei ostdeutschen Jugendlichen sind ein Resultat der Vereinigung: Man ist plötzlich mit mehr Fremden konfrontiert, die – bedingt durch die Sozialisation in der DDR und im Umgang mit Fremden dort – abgewehrt werden müssen, man geht auf Distanz. Fremde sind etwas ungewohntes, die abgewehrt werden.

5.2.4 Zusammenfassung

Berücksichtigung finden muß unbedingt die Sozialisation wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben. Wenn man grundsätzlich mißtrauischer anderen gegenüber eingestellt ist, wird man Fremden kaum offen begegnen können. Zwei Faktoren sind also wirksam: Die staatlich institutionalisierte Ausgrenzung von Fremden und die grundsätzlich mißtrauischere Haltung anderen gegenüber. Dadurch wurde eine Kluft zwischen der Bevölkerung und den Fremden geschaffen, in die Vorurteile eindringen konnten. Diese Kluft erlaubt es gleichzeitig, Gewalt skrupelloser anzuwenden.

Die Anwendung der Gewalt hat verschiedene Ursachen. Sozialisationsbedingt ist die Empathiefähigkeit (durch die Gefühlsunterdrückung) ohnehin eingeschränkt, die nicht vorhandenen Alltagskontakte zu Fremden in der DDR sind ebenfalls ein Grund für das geringere Einfühlungsvermögen in die Gewaltopfer. Das politische System der DDR ließ es darüber hinaus nicht zu, daß individuelle Gewalt abgebaut und friedliche Konfliktlösungsstrategien entwickelt werden konnten. Das Vertrauen in staatliche Institutionen ist geringer, demzufolge wird das staatliche Gewaltmonopol weniger anerkannt. Sogar das zwischenmenschliche Vertrauen ist (ebenfalls durch die Sozialisation) geringer. Deswegen fällt es ohnehin schwerer, abstrakten Institutionen zu vertrauen.

Vertrauen ist eine der fehlenden Ressourcen in postkommunistischen Gesellschaften.(327) Mangelndes Vertrauen kann schnell in Gewalt umschlagen. Bei geringem Vertrauen werden den Politikern eher ihre Problem- und Konfliktlösungskompetenzen abgesprochen, weil sie unter einem Vertrauensverlust leiden. Das bedeutet, daß die Bewohner dann eher ihre Angelegenheiten in die eigene Hand nehmen. Steil z. B. hat dies ebenfalls verdeutlicht.(328) Auch der 65jährige Rentner hat sich so geäußert: "Aber wir [er und andere aus dem Ort, in dem ein Ausländer ermordet wurde, der Verf.] waren uns einig, daß es so kommen mußte. [...] Wenn man provoziert wird, darf man sich nicht wundern, daß das Folgen haben kann. Ich habe nichts gegen den Toten, [...] der ist ein Opfer unserer Politiker. Die hatten solche wie den hierhergeschickt, ohne uns zu warnen."(329)

Außerdem sind die Fremden nur Leistungsempfänger. Solche Ausländer hat es in der DDR vorher nicht gegeben. Dadurch ist das Akzeptanzniveau für Flüchtlinge niedrig, zumal (wendebedingt) die Arbeitslosigkeit hoch ist. Das ist aber auch ein Ergebnis der materiellen Mangelerscheinungen in der DDR auf psychologischer Ebene: Die Mangelerfahrungen führten in der DDR dazu, daß man Freunde und Bekannte auch danach ausgesucht hat, ob sie die Mängel ausgleichen können. Der oder die andere mußte nützlich sein. Flüchtlinge verstoßen gegen solche Nützlichkeitserwägungen. Das niedrige Akzeptanzniveau ist ein Resultat des geringen Einfühlungsvermögens.

Es gibt auch eine sehr fundamentale Haltung, Fremde abzulehnen, weil ihr Aussehen, ihre Lebensart völlig fremd sind. Es gibt grundsätzliche Schwierigkeiten, Menschen mit anderen Lebensweisen zu tolerieren, weil sie gegen sg. "deutsche Normen" verstoßen. Dies ist ein Resultat der geringen Möglichkeiten in der DDR, mit anderen Kulturen in Kontakt zu treten. "Weltoffenheit" ist noch weniger stark verankert wie in den westlichen Bundesländern. Ethnischer Pluralismus war nicht institutionalisiert. In der Lesart Baumans sind dies die Relikte der modernen Suche nach Ordnung, man ist noch nicht in der Postmoderne angekommen, in der Ambivalenzen im allgemeinen und Verstöße gegen Normen im besonderen akzeptiert werden können.

Im nächsten Abschnitt soll geklärt werden, welche Rolle das Selbstverständnis der DDR spielte für die Entstehung rechtsradikaler Tendenzen. Der Umgang mit Fremden erklärt Fremdenfeindlichkeit. Warum aber nahmen und nehmen Jugendliche in der "antifaschistischen" DDR Rekurs auf nationalsozialistische Symbole und Ideologiefragmente ?

5.3 Der verordnete Antifaschismus der DDR

5.3.1 Faschismus = Antikommunismus: die Interpretation des Nationalsozialismus

Eine Bemerkung vorab: Der Begriff "Antifaschismus" wird hier ausschließlich in der Bedeutung benutzt, wie er von den Ideologen der DDR verwendet und gefüllt worden ist. Diese Terminologie weicht erheblich vom historischen Antifaschismus ab. "Historischer Antifaschismus" bedeutet eine aus den Gegenbewegungen der verschiedenen Faschismen abgeleitete Begrifflichkeit.

Offiziell bezeichnete sich die DDR als einen antifaschistischen Staat, denn er hat "getreu den Interessen des Volkes und den internationalen Verpflichtungen auf ihrem Gebiet den deutschen Militarismus und Nazismus ausgerottet."(330)

Faschismus wurde nach Dimitroff offiziell definiert als "offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals. [...] Sein Hauptangriff richtet sich gegen die Arbeiterklasse."(331) "Kern der faschistischen Ideologie ist der extreme Antikommunismus".(332) Dementsprechend wird Neofaschismus eingestuft als "zügelloser, blinder Antikommunismus".(333) Die verschiedenen Formen des Rassismus werden hierbei unter den Antikommunismus subsumiert (Rassismus als Herrschaftsform des Kapitals) und egalisiert: "Der Rassismus ist in verschiedenen historischen Gestalten in Erscheinung getreten. In seiner modernen Ausprägung ist er Bestandteil der Politik und Ideologie – vor allem des Antikommunismus – der reaktionären Monopolbourgeoisie aller imperialistischen Staaten, unabhängig davon, ob er vorwiegend als Rassen-Antisemitismus (besonders im faschistischen Deutschland), als Rassen-Apartheid (Südafrikanische Union, Rhodesien), als Rassen-Antinegridentum (USA, England) usw. auftritt."(334)

Diese Nivellierung hat Tradition: Bereits 1935 hat Dimitroff auf dem XIII. Plenum des Exekutivkomitees die verschiedensten Diktaturen als "faschistisch" bezeichnet.(335) Ebenso wurde in der DDR verfahren: Fast alles, was nicht in das sozialistische Weltbild paßte, wurde als "faschistisch" tituliert. Die Mauer war ein "antifaschistischer Schutzwall", die Bundesrepublik war faschistisch, weil kapitalistisch, der Aufstand am 17. Juni 1953 sei von westdeutschen Faschisten angezettelt usw. Die nationalsozialistische Geschichte wurde hochgradig instrumentalisiert, um sich von der Bundesrepublik abzugrenzen: Auf der konstituierenden Sitzung zur Gründung der "Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen" (jetzt: Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen) hing ein großes Plakat mit der Aufschrift "Sachsenhausen mahnt. Sichert den Frieden ! Bändigt die Militaristen und Faschisten in Westdeutschland, die Todfeinde der Völker !"(336) Gleichzeitig, und das zeigt die Infamie der Staatsführung im Umgang mit dem Nationalsozialismus, "plante und initiierte das MfS zumindest ab dem Frühjahr 1961 gezielt antisemitische Aktionen in der Bundesrepublik Deutschland."(337)

Die Haltung, daß alles nicht ins Weltbild passende faschistisch sei, war mitverantwortlich für die Erosion der Ideologie und damit mitverantwortlich für die Auflösung der DDR. Denn wenn zu viel als "faschistisch" bezeichnet wird, verkommt der Begriff zu einer leeren Worthülse. Dann aber wird auch der Nationalsozialismus letztendlich verharmlost, was zur Folge hat, daß die Bedeutung des zentralen Bezugspunktes der Legitimation der DDR schwindet.

Man kann sich leicht vorstellen, daß das Geschichtsbild und das Bekenntnis zum Antifaschismus in allen Sozialisationsinstanzen und im Alltag eine wichtige Rolle spielte. Das öffentliche Gelöbnis der Jugendweihe war nicht nur ein Bekenntnis zur DDR und zum Sozialismus, sondern auch zum Antifaschismus.

Der Artikel 6 der DDR-Verfassung ist die logische Konsequenz der offiziellen Faschismus-Definition, denn ohne Privatkapital und -eigentum der Produktionsmittel ist Faschismus innerhalb des engen kommunistischen Faschismusbildes unmöglich.

Bereits mit der offiziellen Faschismus-Definition Dimitroffs wurde ein sehr verkürztes Geschichtsbild vermittelt, das bis heute für die Erklärung rechtsradikaler Tendenzen in Ostdeutschland gültig ist, denn diese "Definition hat für die kommunistische Faschismuseinschätzung bin in die jüngste Zeit hinein Geltung",(338) denn: "Alle zwischen 1951 und 1988 erschienen Geschichtslehrbücher folgten der 1935 aus der Faschismus-Definition von Georgi Dimitroff abgeleiteten Interpretation des Nationalsozialismus."(339)

Diese verkürzte und einseitige Geschichtsinterpretation hatte zur Folge, daß viele Bereiche bei der Betrachtung des Nationalsozialismus ausgespart bzw. andere überbetont und einseitig betrachtet worden sind.

Einseitig betrachtet wurde z. B. der Widerstand während des Nationalsozialismus, was die Rolle des kommunistischen Widerstandes überbetonte. Entsprechend der Ideologie wurde der antifaschistische, also kommunistische, Widerstand durch diverse Veranstaltungen "vermittelt": 1988 waren es täglich ca. 100.(340)

Im zeitlichen Verlauf nahm der antifaschistische Widerstand immer mehr Raum im Geschichtsunterricht ein (1951 14%, 1970 30%, gemessen am Textumfang in den Lehrbüchern). "Dabei wurde fast ausschließlich der Kampf der KPD behandelt."(341) Widerstand wurde definiert als logische Folge der Faschismus-Definition, nämlich als "Klassenkampf der Arbeiterklasse sowie der anderen Werktätigen gegen die Monopolbourgeoisie und ihre Machtorgane."(342) Nicht dargestellt wurde somit, daß es auch andere Widerstandsformen gegeben hat, dessen Motive sich aber aus anderen Quellen als denen des Klassenkampfes gespeist haben. Diese enge Geschichtsbetrachtung wurde erst Ende der 80er Jahre etwas erweitert, nach dem man bereits in den 70er Jahren zumindest auf wissenschaftlicher Ebene begann, das Geschichtsbild zu erweitern. Ende der 80er Jahre wurde zunehmend der Holocaust thematisiert.(343) Dies geschah aber nicht völlig ohne Eigeninteresse. Das Honecker-Regime war an finanzieller Unterstützung aus den USA interessiert, weswegen auch die Neue Synagoge in Berlin wieder aufgebaut wurde. Gleiches gilt für ein Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte (nach der Wende baulich realisiert). Amerikanische Juden als potentielle Geldgeber sollten positiv gestimmt werden. Hier fällt auch eine antisemitische Stereotype auf: Juden sind reich und hätten in den USA genug Einfluß, um die finanziellen Hilfen zu unterstützen.

Viele Aspekte des Nationalsozialismus blieben trotz allem ausgeblendet, das etwas vollständigere Geschichtsbild spielte ohnehin selbst für die jüngste Zeit in der DDR kaum eine Rolle. Die neuen Erkenntnisse fanden kaum Eingang in Schulen.(344) Die meisten Jugendlichen wuchsen also mit sehr einseitigem Wissen über den Nationalsozialismus auf. Aus diesem Grund ist die Beschränkung auf diese Periode hier von Wichtigkeit.

Es fehlten Alltagsdarstellungen des NS, "über das Sichanpassen der Bürger an die Diktatur, über die Erfahrungswelt der Wehrmachtsangehörigen."(345) Darauf mußte allerdings verzichtet werden, weil sonst zu viele Parallelen mit der DDR sich offenbaren würden bezüglich der Wirkung von diktatorischen Regimen und ihren Militarismus. Wenn Kinder und Jugendliche dazu erzogen werden sollten, ihr sozialistisches Vaterland zu verteidigen, stehen dem authentische Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges entgegen.

Das Alltagsleben konnte auch deswegen kaum geschildert werden, weil das die Geschichte des Mitläufers ist, "Probleme des Führerkults und der Verführbarkeit der Massen wurden den Schülern weder emotional noch rational nahegebracht."(346) Selbstverständlich mußte auf solche Aspekte ebenfalls verzichtet werden, weil man sonst die Ähnlichkeiten politischer Rituale und ihrer Wirkungen auf das Individuum in der DDR und im Nationalsozialismus gezeigt hätte. Das mußte natürlich unter allen Umständen vermieden werden.

Die Darstellung nationalsozialistischer Täter beschränkte sich auf Allgemeinplätze. Außerdem wurden die Täter dämonisiert (in der ehemaligen Pathologie der Gedenkstätte Sachsenhausen wird die Vokabel "entmenscht" verwendet). Dieser Umgang erfüllte eine Funktion: Wenn die Täter möglichst dämonisch sind, fällt es einfacher, diese woanders zu finden: in der ebenfalls zum Dämonen hochstilisierten Bundesrepublik Deutschland und in anderen westlichen Staaten. Dem Hauptfeind, den Nationalsozialisten (besser: Faschisten), kann man energischer entgegentreten, wenn er als das Böse schlechthin betrachtet wird. Wenn man dagegen die Normalität der Täter aufgreift, hätte das zur Folge, den Prozeß zu veranschaulichen, wie man zum Täter wird. Daher gab es in der DDR auch kaum eine Täterforschung. "Die Täter waren [...] in der DDR eine Blindstelle."(347) Hier trifft sich die Darstellung der Täter mit der Perzeption des sg. "Kapitalismus" und "Imperialismus". Beides verkörperte das Böse schlechthin.

5.3.2 Auswirkungen auf Jugendliche

Aber in diese weißen Flecken der Geschichtsschreibung konnten nun Mythen wachsen, die wiederum Verbindungen zum Rechtsradikalismus liefern. Gerade Jugendliche verletzen Tabus, darüber hinaus blieben die Lücken in der Geschichtsschreibung nicht unentdeckt. Diese Wissenslücken wollen gestillt sein und sind ein idealer Nährboden für Mythen.

Dadurch, daß die DDR keine Auseinandersetzung mit dem NS forderte, blieb der private Bereich natürlich ausgespart. Letztendlich haben sich in der DDR eher Weniger Gedanken um ihre Rolle während des NS gemacht als in der Bundesrepublik. Dieses gepaart mit der Tatsache, daß die Jugend viel zu wenig über den NS in der Schule erfuhr, führte letztendlich dazu, daß sich alte ideologische Bruchstücke und Mentalitäten tradiert haben. Eine 68er, die Eltern zwar eher angeklagt als befragt haben, aber somit zumindest teilweise einen wichtigen Prozeß innerhalb der Familie ausgelöst haben, gab es in der DDR nicht. Die Schüler in der DDR hatten zu wenig Kenntnisse, um "anklagen" zu können. "Wer wahrnehmen will, tut es und stellt sich und seinen Freunden die Fragen. Wer aber nicht will, wird durch den offiziellen Antifaschismus auch nicht dazu gedrängt. Im Westen scheint ein langsamerer, aber [...] gründlicherer Prozeß [...] in Gang gekommen zu sein."(348)

Bialas beschreibt dieses Vakuum, d. h. bei ihm die Tatsache, daß es in der DDR-Geschichtsschreibung nur Kommunisten und Faschisten gegeben hat, wie folgt: "Mit unseren Großeltern oder Eltern hatten beide nichts zu tun. [Mit Faschisten oder Kommunisten, der Verf.] Schwer zu glauben, daß diese überhaupt in jener Zeit in Deutschland gelebt hatten. [...] Erster Aufschein des Niemandslandes zwischen Faschismus und Widerstandskampf. Paradox freilich auch diese Terra Inkognita. Betreten verboten auf einem Territorium, wo es doch von Menschen nur so wimmelte, von Menschen allerdings, deren Gesichter, deren Emotionen und Handlungen, deren Leben überhaupt unwirklich und diffus blieb. Ein '1968', wo man solche Fragen hätte öffentlich stellen können, gab es in der DDR nicht. Die Befragung der Väter fand nicht statt. Auch privat nicht."(349) Andererseits zeigt sich, daß die Jugendlichen ein starkes Interesse an der Geschichte des NS entwickelten,(350) was letztlich dazu führt, daß die Kluft zwischen Unwissen und offizieller Geschichtsschreibung gefüllt werden will.

Die Wissenslücke wurde dann aber vielmehr dadurch gefüllt, daß zwar gefragt wurde (die Tabuisierung reizt Jugendliche schließlich), die Eltern bzw. Großeltern den NS unter Umständen eher verherrlicht haben.

Zwar waren extrem rechte Orientierungen nach der Wende nicht stärker ausgeprägt als in Westdeutschland, aber "unterscheidet sich der Anteil derer, bei denen rechte Orientierungen nur wenig ausgeprägt sind, doch erheblich. Dieser ist bei den westdeutschen Schülern etwa doppelt so hoch. [...] Dies deutet darauf hin, daß [...] die Immunität gegenüber nationalistischen [...] Ideologien bei westdeutschen Jugendlichen stärker ausgeprägt sind. [Hervorhebung durch den Verf.]"(351) Diese größere Immunität ist auch auf ein vollständigeres Geschichtsbild zurückzuführen. Dieser Sachverhalt wird im internationalen Vergleich extrem deutlich. Die alte Bundesrepublik weist in Europa den geringsten Nationalstolz aus, gleichzeitig war die alte Bundesrepublik das einzige Land im europäischen Vergleich, wo die Demokratiezufriedenheit höhere Werte als der Nationalstolz aufwies.(352)

Interessant ist, daß mehr ostdeutsche Schüler für Hitler große Bewunderung empfinden.(353) Dies könnte seine Ursache darin haben, daß beim Vergleich der beiden Diktaturen Hitler besser bewertet wurde, denn Mangelwirtschaft wie in der DDR beispielsweise gab es im NS vor Kriegsausbruch kaum. Besser bewertet heißt hier, daß der NS besser bewertet wurde von denjenigen, die beide Diktaturen bewußt erlebt haben. In der individuellen Erinnerung bleibt im Gedächtnis, daß Hitler in der Bevölkerung größere Zustimmung gefunden hatte als die Führung der DDR. Dies führt letztlich dazu, daß der NS verherrlicht wurde. Diese Verherrlichung hat dann die Wissenslücken gefüllt, alte Erinnerungen wurden weitergegeben. Es ist möglich, daß der NS subjektiv als das bessere System wahrgenommen wurde. "Auch in den einzelnen Familien gibt es so etwas wie 'ungetrübte Erinnerung'. Großväter schwärmen von ihrer Soldatenzeit, verbreiten manchmal eher unbewußt ein Bild von der Nazizeit, das unkritisch angenommen wird. [Hervorhebung durch den Verf.]"(354) Diese unkritische Annahme ist aus drei Gründen möglich: Erstens können die Großeltern keine Täter gewesen sein, denn diese sind angeblich in der Bundesrepublik. Zweitens entsprechen die Verwandten wohl kaum dem in der DDR geprägten Bild des "faschistischen Dämonen". Somit ist es möglich, daß der Nationalsozialismus verherrlicht werden konnte. Drittens konnte das unkritische Bild wegen des geringen Wissens kaum hinterfragt werden.

Die Verherrlichung läßt sich an einigen Aussagen Jugendlicher verdeutlichen: "Ich finde, die alte DDR-Regierung hat uns genauso behandelt, wie die Regierung des Faschismus. Sie hat uns aber am Leben gelassen." Jemand anders sagt aus: "Wir regen uns über die Vergangenheit auf, die Gegenwart des Sozialismus war schlimmer."(355)

Wenn letztlich alles "böse" war, westliche Staaten und der Nationalsozialismus, wird letzterer schließlich durch unqualifizierte Gleichsetzung verharmlost. Solche Vergleiche können dann einfach herangezogen werden.

Hieraus ist aber nicht der Schluß zu ziehen, daß sich in jedem Fall ideologischen Bruchstücke vererbt hätten oder daß alle rechtsradikalen Jugendlichen grundsätzlich diese Erfahrungen gemacht haben müssen. Diese Erklärung aber ist eine weitere, die die Entstehung des Rechtsradikalismus in der DDR zumindest flankiert bzw. daß dieses politische Klima rechtsradikale Tendenzen begünstigt. Historisch bedingt aber sind dies wahrscheinlich keine Einzelfälle. Dies zu erklären, bleibt dem Kapitel 5.4 vorbehalten.

Offiziell war die Bundesrepublik ein potentiell faschistisches Land auf Grund seines kapitalistischen Systems und auf Grund der Tatsache (nach DDR-Auffassung), daß in der Bundesrepublik sämtliche "Alt-Nazis" Unterschlupf fanden. Bei dieser Darstellung der Bundesrepublik ist es problematisch, daß sie wirtschaftlich erfolgreicher war als die DDR, was eine weitere Hinwendung zu rechten Ideologien bedeuten könnte. Denn im "Land der Nazis" lebt es sich besser. "Es konnte nicht ohne Folgen für das Selbstbewußtsein der DDR-Bevölkerung bleiben, daß die im offiziellen ideologischen Selbstverständnis als Nachfolgestaat der Täter geführte Bundesrepublik eine wesentlich erfolgreichere Nachkriegsentwicklung nahm als die DDR."(356)

Gerade wenn man gegen das staatliche System der DDR "protestieren" will, kann man dies als "Faschist" am auffälligsten, denn Faschismus ist eine antikommunistische Bewegung in der DDR-Geschichtsschreibung. "Es ist gut zum Provozieren, da flippen die braven Bürger aus, wenn wir Heil schreien, oder zu den Türken: Ab ins Gas! [...] Ich war auch schon ein paar mal in Buchenwald, da läuft es einem schon kalt über den Rücken. Na, so einen Dreck möcht ich nicht erleben. Aber der Wahnsinn ist natürlich gut für uns, um die anderen damit zu erschrecken. Es gibt nichts besseres, sagt Heinz auch immer. Er meint, schreit ihnen was ins Gesicht, was sie nicht erwarten, wovor sie sich fürchten, wo sie nicht wissen, was sie sagen sollen. Also machen wir's mit den Sätzen von damals, die wirken immer."(357)

Die genannten Faktoren sind eher als ein politisches Klima zu verstehen, in dem Jugendliche agieren, als "wichtige historische Wurzeln des Rechtsextremismus in Ostdeutschland",(358) die mögliche Verbindungslinien bilden.

Zwar scheint es insgesamt kaum Unterschiede in der Einschätzung des NS zu geben, wenn man die gesamte Bevölkerung betrachtet,(359) dieses Bild ändert sich jedoch bei Jugendlichen. Die Definition Dimitroffs des Nationalsozialismus (in der Terminologie der DDR "Faschismus") spielt eine sekundäre Rolle, da sie im Meinungsbild der Jugendlichen kaum wiederzufinden ist. Genannt werden häufig negative Merkmale, die ziemliche Allgemeinplätze darstellen, z. B. KZ, Terror, viele Tote u. ä., "während wesentliche konstitutive Merkmale wie Diktatur, Manipulation, Gleichschaltung, Unterdrückung und Vernichtung Andersdenkender kaum bzw. überhaupt nicht genannt wurden."(360)

Im zeitlichen Verlauf ist seit 1988 eine Zunahme rechtsradikaler Orientierungen festzustellen. Der Aussage beispielsweise, daß der NS auch seine guten Seiten gehabt habe, stimmten 1988 12% der Schüler zu, 1990 13%, 1992 25%. Bei Lehrlingen ist eine ähnliche Zunahme zu beobachten: 1988 15%, 1990 20%, 1992 37%. Der deutlichste Anstieg war also nach der Wende zu verzeichnen.(361) Die Altersaufschlüsselung zeigt für 1992 besonders drastisch die Meinung Jugendlicher über den NS: "30% der 14-18jährigen und 21% der 19-25jährigen meinen, daß der Nationalsozialismus auch seine guten Seiten hatte."(362) Zu beachten ist die Altersaufschlüsselung: Die Tatsache, daß gerade die Jüngeren den NS verharmlosen, ist ebenso ein Indiz für jugendliches Protestverhalten.

Diese Verharmlosungen sind Ergebnis eben dieses politischen Klimas, weil viele Aspekte des NS nicht genannt wurden, was wiederum auf das Geschichtsbild der DDR zurückzuführen ist. Der Anstieg nach der Wende ist einerseits damit zu erklären, daß sich daß Bewußtsein durchsetzt, daß "Wahrheiten" jetzt genannt werden dürfen, andererseits kann es aber auch sein, daß auf Grund der Sozialisation in der DDR jede "offizielle" Geschichtsschreibung grundsätzlich angezweifelt wird: "Aber so richtig glauben tut keiner von uns an die Geschichten von damals, die wir jetzt hören. Vielleicht sind wir doch zu lange von den DDR-Lehrern beeinflußt worden."(363) Hanna bezweifelt die gegenwärtige Geschichtsschreibung.

Aber auch wenn es sich nur um Protestverhalten handelt, muß damit pädagogisch anders als im Westen umgegangen werden, weil die Ursprünge völlig andere sind. Denn verhindert werden soll, daß sich diffuse Orientierungen zu Einstellungen verdichten.

5.3.3 Der Umgang in der DDR mit rechtsradikalen Jugendlichen

Zu Beginn der 80er entstanden auf Grund der Pluralisierungen verschiedene Subkulturen unter Jugendlichen, darunter auch rechtsradikal orientierte. An dieser Stelle muß von rechtsradikaler Orientierung gesprochen werden, weil diese in der Regel zunächst tatsächlich eine Protestfunktion gegen das politische System der DDR darstellten. Mitte der 80er politisierten sich die rechtsradikal orientierten Jugendlichen, was nicht zuletzt auf einen völlig falschen Umgang staatlicher Organe mit den Jugendlichen beruhte.

Hinzu kommt, daß sich die politische Führung von vornherein von der Bevölkerung entfremdet hat, denn die staatlichen Eliten kamen alle aus der kommunistischen Widerstandsbewegung. So entstand eine Kluft zwischen ihnen und dem Volk, das eben kein Volk von Widerständlern war. Diese Kluft aber war auch das Ergebnis eines gegenseitigen Prozesses, denn die politische Führung war dem Volk gegenüber zutiefst mißtrauisch. "Als 'Widerstandskämpfer an der Macht' verdächtigten sie im Prinzip die gesamte Bevölkerung der potentiellen 'Komplizenschaft mit dem Klassengegner'."(364) Dieses wiederum führte zum Ausbau eines massiven Sicherheitsapparates, zuerst in Form der NKWD-Lager und dann in Form der Staatssicherheit.

Das Mißtrauen der "Widerstandskämpfer an der Macht" wirkte sich auch auf Jugendliche aus. Im wesentlichen ging es darum, abweichendes Verhalten zu kontrollieren, was bereits ab 1966 durch Dokumente nachweisbar ist. Zu kontrollieren war der innere Feind und wegen des Mißtrauens die gesamte Jugend: "Bei der Lektüre der Liste dieser 'Personenkategorien' spürt man, wie Mielke von der Dynamik seines eigenen Weltbildes fortgerissen wurde [...]. Zuerst werden Randgruppen benannt: 'vorbestrafte jugendliche Personen', 'jugendliche Rückkehrer und Zuziehende aus der Bundesrepublik', 'Arbeitsbummelanten'. Doch dann weitet sich der Blick: 'Schwerpunktmäßig' sind auch 'Oberschüler und Lehrlinge' und - natürlich - die 'studentische Jugend' zu bearbeiten. Schließlich werden auch die 'kirchlich gebundenen Jugendlichen' nicht vergessen. Die unausgesprochene Konsequenz ist klar: Die Jugend insgesamt hat als Unsicherheitsfaktor zu gelten."(365) Obwohl es damals um abweichendes Verhalten der sg. "Beat-Gruppen" ging, blieb diese Dienstanweisung bis zum Ende der DDR in Kraft.

Schon hieran wird deutlich, daß die DDR kaum problemorientiert mit rechtsradikalen Tendenzen umgehen konnte, weil die verschiedenen jugend-subkulturellen Phänomene viel zu stark egalisiert wurden.

Das Entstehen rechter Tendenzen muß auf dem Hintergrund der schwindenden Legitimation des Staates und des Marxismus-Leninismus gesehen werden, welche Anfang der 80er Jahre ihren Anfang nahm. Der Westen mit seinen verschiedensten Jugendkulturen bot hierbei ein Vorbild, allerdings ist die vom MfS vertretende These, daß Rechtsradikalismus ein Import aus dem Westen sei, falsch. Der Westen war eben nicht mehr als ein Vorbild.

Den Jugendlichen ging es darum, "dem verordneten Konformismus zu entkommen."(366) Die politische Zuordnung spielte erst einmal keine Rolle. So ist es kein Wunder, daß die Biographien nicht sehr geradlinig sind, z. B. wandelte sich Ingo Hasselbach vom Punk zum führenden Kopf der Nationalen Alternative.(367) Solche brüchigen Lebensläufe vom Punk zum Skinhead waren keine Einzelfälle. Weil sie aber deutsche Sekundärtugenden wie Fleiß, Ordnung, Disziplin vertreten haben, waren sie aber auch eher geduldet. Sie vertraten also Werte, die ohnehin in der DDR stärker vorhanden waren. "Die Faszination ging [...] vom Angebot an Wertorientierungen und Idealen aus, was sich Skinhead-Gruppierungen inzwischen durch Rückgriff auf das soziale Gedächtnis des Volkes angeeignet hatten".(368)

Aber es gab bereits Anfang der 80er eine rechtsradikale Skinhead-Szene, deren Aktivitäten in den Fußballstadien öffentlich wurden. Diese wurde aber vom MfS nicht problematisiert, obwohl der MfS informiert war: "Sie [Skinheads, der Verf.] existieren seit ca. 1982/83. [...] Sie sind politisch desinteressiert, ihr Auftreten und Verhalten ist gekennzeichnet durch übersteigertes 'Nationalbewußtsein als Deutsche', Rassenhaß und Ausländerfeindlichkeit, verbunden mit Übernahme faschistischen Gedankenguts. Skinheads existieren u. a. im negativen Anhang von Fußballklubs".(369) Warum sie anfänglich ignoriert wurden, ist dem gleichen Dokument zu entnehmen: "insgesamt sauberes Aussehen und Bekleidung (bewußter Gegensatz zum verwahrlosten Erscheinungsbild sogenannter Punks)".(370) Punks waren auffälliger, ihr abweichendes Verhalten stärker. Dieses Vorgehen steht aber ebenso im Zusammenhang mit der Tatsache, daß es in der "antifaschistischen" DDR keine rechtsradikalen Tendenzen geben konnte bzw. durfte. Man beobachtete sogar Punks, die sich zu einer "Antifa-Skinhead-Front" in Potsdam zusammenschlossen mit der Begründung, sie unterstellten mit ihrem bloßen Auftreten der DDR "neofaschistische Aktivitäten".(371)

Einen Wendepunkt in der Wahrnehmung des MfS gab es 1987 mit dem Skinhead-Überfall auf die Zionskirche in Berlin. Die Kirche organisierte ein Punk-Konzert, das dann zum Angriffspunkt der Skins wurde. Die Ausschreitungen konnten nun nicht mehr in der Öffentlichkeit totgeschwiegen werden. Das MfS reagierte insofern, als Generalmajor Kienberg nun weitere Berichte und Informationen über Skinheads wünschte, dessen Produkt dann das eben zitierte Dokument war.

Dieser von Süß als Wendepunkt bezeichnete Vorfall bedarf aber einer Relativierung, denn die DDR-Straforgane gingen erneut nach der Methode vor "was nicht sein kann, das nicht sein darf". "Die Anklage lautete auf §215 des DDR-Strafgesetzbuches ("Rowdytum") und §217 (Zusammenrottung). Die Paragraphen der versuchten Körperverletzung, des versuchten Totschlags [...] oder der "Öffentlichen Herabwürdigung" (§220: "Ebenso wird bestraft, wer in der Öffentlichkeit Äußerungen faschistischen, rassistischen, militaristischen oder revanchistischen Charakters kundtut oder Symbole dieses Charakters verwendet, verbreitet oder anbringt") werden nicht herangezogen."(372) Die Urteile sind selbst an den tatsächlich angewendeten Paragraphen noch sehr mild, was Protest hervorrief, so daß der Staatsanwalt gegen sein eigenes gefordertes Urteil Revision einlegen mußte. Die Folge war ein um acht Monate höheres Urteil, aber vor allem, daß die Wochenpost (Nr. 7/88) offiziell die "antifaschistische" Erziehung vorsichtig anzweifelte.(373) Tatsächlich schuld an diesem Überfall hat nach Auffassung der Staatsorgane eigentlich die Kirche, "weil ein Punkkonzert doch provokativ wirken müsse und automatisch solche Schlägertruppen anziehen würde."(374) Hier fand eindeutig eine Schuldverlagerung statt.

Skinheads wurden vom MfS an Äußerlichkeiten festgemacht, obwohl verschiedene Ursachen für ein Skinhead-Outfit eine Rolle spielten: sg. "Bomberjacken" waren auf dem Schwarzmarkt ziemlich teuer (ca. 800-900 Mark), so daß sie als prestigeförderndes Mittel eingesetzt werden konnte, andererseits konnte es sich aber auch um Protestverhalten handeln, da sich ein antifaschistischer Staat mit "faschistischer Ideologie" am ehesten provozieren ließ. Die MfS-Mitarbeiter machten es sich oft zu einfach, in dem sie vom Outfit vorschnell auf die Ideologie schlossen. "Durch Stigmatisierung bestärkte es eine Entwicklung, die es 'eigentlich' vermeiden wollte."(375)

1988 thematisierte auch das SED-Politbüro die rechtsradikalen Tendenzen in der DDR.(376) Zwei Punkte fallen bereits beim Lesen des Titels auf:

Erstens ging es um die Rückgewinnung der Jugendlichen für sozialistische Werte, was problematisch ist, weil die Ursachen des schwindenden Einflusses der Parteiorganisationen und der FDJ nicht beachtet wurden. Zweitens wurde die Schuld dem "Klassenfeind", also der Bundesrepublik Deutschland, zugeschoben. Schon hieran wird deutlich, wie sehr die DDR ihrer Ideologie verhaftet blieb und selbst 1988 noch die Bundesrepublik als potentiell faschistischen Staat (weil eben kapitalistisch) betrachtete. Darüber hinaus wurden die Klischees der Dienstanweisung 4/66 kritiklos übernommen.

Die im Titel anklingenden Aspekte wurden im Dokument näher ausgeführt. Dort heißt es entsprechend der Auffassung der DDR u. a.: "Wie auf der 5. Tagung des ZK eingeschätzt wurde, unternehmen die Feinde des Sozialismus große Anstrengungen, um ideologisch auf Jugendliche einzuwirken. [...] Die Jugend der DDR ist eine der wichtigsten Zielgruppen des Gegners. [...] Es wird auch versucht, Jugendliche dem Einfluß der FDJ zu entziehen. Dazu werden nach westlichem Muster kleine Gruppen [...] organisiert [...] - gegenwärtig vor allem Skinheads, Punks und 'Heavy Metal' u. a."(377)

Als Ursache für den schwindenden Einfluß wurde die Bundesrepublik benannt. Somit wurde versäumt, nach eigenen systemimmanenten Ursachen der schwindenden Anziehungskraft der verschiedenen Organisationen zu suchen.

Ein Novum aber war, daß die offiziellen Staatsorgane rechtsextremistische Erscheinungen als Problem erkannten und daß zunächst einmal zwischen den verschiedenen Jugendkulturen differenziert wurde:

"Es ist dabei eine sehr personenbezogene differenzierte Einschätzung erforderlich, weil sich die Vorliebe für eine bestimmte Moderichtung bei vielen Jugendlichen mit antisozialistischem Verhalten bei nur einigen Jugendlichen mischt. [im Original unterstrichen, der Verf.]"(378) Skinheads werden wie folgt beschrieben: "Sie [Skinheads, der Verf.] bezeichnen sich teilweise selbst als 'Antikommunisten' und 'Faschisten'. [...] Ihre Arbeit verrichten sie zum Teil diszipliniert, was ihren Vorstellungen von 'Zucht und Ordnung' entspricht."(379)

Nicht thematisiert wurde in der FDJ, warum man sich betont als "Antikommunist" und "Faschist" ausgibt, doch an der Tatsache, daß man sich als solcher ausgibt (insbesondere als "Antikommunist"), wird die Verknüpfung der Ursachen im "antifaschistischen" Staat deutlich. Ebenso wird deutlich, daß Skins unauffälliger sind, weil sie im Arbeitsprozeß disziplinierter auftreten, so daß als Konsequenz Punks u. ä. das eigentliche Problem darstellten.

Doch bereits im Februar 1988 wurden die verschiedenen Jugendkulturen wieder im Bericht egalisiert.(380)

Das hatte auf Grund der härteren Verfolgung nach dem Vorfall in der Zionskirche eben auch Stigmatisierungen zur Folge. Zwar wurde nun "Rechtsextremismus" in der DDR öffentlich, "tabuisiert wurden freilich deren innergesellschaftliche Ursachen."(381) Dementsprechend wuchs die Anzahl der rechtsradikalen Jugendlichen zum Ende des letzten Jahrzehnts der DDR weiter an. Wenn die staatlichen Organe der DDR genauere Einzelfallstudien unternommen hätten, was nicht möglich war, ohne sich selbst in Frage zu stellen, "dann wäre ihm der Umschlagspunkt der hier geschilderten Entwicklung nicht entgangen, an dem es doch eigentlich ein professionelles Interesse hätte haben müssen: der Übergang von einer rechten jugendlichen Subkultur, die aus Protest gegen die Konformitätszwänge der herrschenden, vorgeblich 'linken' Ideologie entstanden war, in eine rechtsextrem orientierte Bewegung."(382) Denn nicht wenige Skinheads waren ursprünglich unpolitisch. "Mir hat der Haarschnitt und die Kleidung sehr gut gefallen, außerdem war es so eine Modesache zu DDR-Zeiten. Und weil man die Mode nicht allzuoft gewechselt hat, hat man das nachgemacht, was die anderen auch gemacht haben."(383)

Wenn es sein mußte, konnte man in der DDR mit rechtsradikalen Straftätern aber auch anders verfahren: Mehrfach wurde im Zeitraum von Ende November 1987 bis März 1988 der jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee in Berlin geschändet.(384) Die Polizei greift, obwohl sie in der Nähe ist, nicht ein. Schleppend werden die Täter schließlich Ende März 1988 gefaßt, die Durchsuchung der Umweltbibliothek im November 1987 war dagegen hervorragend (aus der Perspektive der zuständigen Polizeibehörde) von der selben Polizeidienststelle vorbereitet.

Die Täter wurden Ende März 1988 gefaßt, es kam zu einem Gerichtsverfahren: "Die Urteile vom 5. Juli gegen die zum Teil 15-jährigen Täter sind drakonisch hart, sie liegen zwischen sechseinhalb und zweieinhalb Jahren."(385) Die Medien berichten in ungewohnter Offenheit darüber. Das dahinterstehende Ziel war nämlich, über den Jewish Council "den Weg frei für amerikanische Wirtschaftshilfe zu machen."(386)

Die Geschichtslehrerin (zumindest ihr offizielles "Ich") zeigte beim Prozeß ihr Unverständnis über die Tat, in dem sie argumentierte, den Schülern "alles über den antifaschistischen Widerstand der Arbeiterklasse"(387) beigebracht zu haben. Das Gericht wies darauf hin, daß solche Straftaten in der DDR keinen Nährboden hätten und die Jugendlichen von westlichen Medien beeinflußt seien. Wenn dem so wäre, warum die außergewöhnlich hohen Strafen ? Diese können nur wegen den Verhandlungen mit dem Council gefällt worden sein, denn: "Bis auf den Hauptangeklagten [...] werden alle Täter am 12. März 1990 entlassen. [...] Das Strafmaß des Haupttäters wurde am 15. 5. 1990 reduziert."(388) Dieser Vorfall zeigt, daß die Strafen nur wegen der Verhandlungen über amerikanische Wirtschaftshilfen möglich waren.

5.3.4 Zusammenfassung

Die Vorgehensweise des MfS hatte zwei Ursachen: Ausgehend vom historischen Fakt, daß es keine Übereinstimmung zwischen den Herrschern und der Bevölkerung gab, entwickelte sich ein tiefes Mißtrauen gegen alle Jugendgruppen, die nicht in das sozialistische Bild paßten und womöglich vom Westen beeinflußt sein könnten, z. B. die sg. "Beat-Gruppen".

Das bereits diagnostizierte Mißtrauen hat im Falle der DDR eine noch tiefer gehende Wurzel: Die neuen politischen Akteure konnten der Bevölkerung, die eben zum Großteil den Nationalsozialismus mitgetragen hat, nur wenig vertrauen. Deswegen mußte zur Herrschaftssicherung und zur Etablierung des sozialistischen Systems zu repressiven Maßnahmen gegriffen werden. Das blieb nicht ohne Folgen für die Bevölkerung, wie im Abschnitt "Sozialisation" gezeigt wurde. Dieses tiefe Mißtrauen wurde ebenfalls auf Jugendliche übertragen, was den Umgang mit rechtsradikalen Tendenzen erschwerte.

Mit dieser Haltung konnte man nicht adäquat auf rechtsradikale Tendenzen reagieren, die es – um die zweite Ursache zu nennen – im "antifaschistischen" Staat nicht geben konnte. Die mit dem propagierten Geschichtsbild entstandenen Lücken über den Nationalsozialismus sind ein weiterer Grund dafür, daß Rechtsradikalismus unter Jugendlichen entstehen konnte.

Dies alles ließ den Jugendlichen einerseits Zeit, sich selbst zu politisieren, nämlich dann, wenn der Staat die gewünschte Aufmerksamkeit vermissen ließ, auch weil Skinheads die "besseren" Jugendlichen im Vergleich beispielsweise zu Punks waren. Andererseits hat die inadäquate Reaktion der Staatsführung die Jugendlichen stigmatisiert und sie auf diese Weise politisiert. Abschließend soll geklärt werden, warum nicht nur Jugendliche in der DDR rechtsradikal eingestellt waren bzw. warum sie auf Angebote der restlichen Bevölkerung greifen konnte. Es geht um einen Teilbereich der inoffiziellen politischen Kultur: die sg. "Nische". Warum konnte unbewußt in dieser Nische der Nationalsozialismus verherrlicht werden ?

5.4 Rechtsradikalismus im historischen Kontext der Nachkriegszeit

5.4.1 Die Mitläufer im Nationalsozialismus: die erklärten Sieger der Geschichte

Die Entnazifizierung ging einher mit der sozialen und ökonomischen Umgestaltung, um einen sozialistischen Staat zu etablieren. Aus diesem Grund ist nicht jede Entnazifizierung eine "echte" Entnazifizierung gewesen. Ein wesentliches Problem bei der quantitativen und qualitativen Bewertung der Entnazifizierung in der SBZ/DDR ist, daß sich die politische Führung ihrer politischen Gegner mit Faschismus-Vorwürfen entledigt hat. Hierin liegt ein weiterer Grund, warum das Begriffspaar "Faschismus/Antifaschismus" zu einer leeren Worthülse wurde. Viele wurden als "Faschisten" diffamiert, weil sie sich der Politik in der SBZ widersetzten. Dies führte zu Verhaftungen in die sg. "Speziallager" der SBZ. Eine exakte Bestimmung der Entnazifizierung ist allerdings nicht nötig. Für die Betrachtung wichtig ist die Mehrzahl der Bevölkerung, die eben nicht entnazifiziert wurde und konnte.

Zum besseren Verständnis muß aber kurz der Zusammenhang zwischen Entnazifizierungspolitik und Geschichtsbild dargestellt werden: Der chronologische Ablauf unterschied sich nicht wesentlich von denen der anderen Zonen. Weil aber in der SBZ ein vollständig anderes politisches System eingeführt wurde, hatte man auch die Entnazifizierung benutzt, um Kommunisten in entsprechende Verwaltungsstellen zu bringen.

Die wichtigen Posten in Justiz, Verwaltung usw. waren von Kommunisten besetzt. Gleichzeitig aber stand man vor dem Problem, nicht genügend Fachleute für den notwendigen Wiederaufbau zu haben. Deswegen mußte man die einfachen Mitläufer heranziehen. Aus diesen Gründen sah die Entnazifizierung etwas anders aus als in den Westzonen, weil wichtige Posten tatsächlich nicht durch ehemals aktive Nationalsozialisten besetzt waren. Die Problematik der Mitläufer aber war ähnlich bezüglich ihrer Re-Integration.

Bereits am 21. Februar 1947 forderte Wilhelm Pieck einen milden Umgang mit Mitläufern.(389) Dies wurde dann auch verhältnismäßig schnell umgesetzt: Im August 1947 wurde mit dem SMAD-Befehl Nr. 201 die letzte Phase der Entnazifizierung eingeleitet, die gleichzeitig aber auch die erste einheitliche Regelung darstellte. Am 26. Februar 1948 wurde mit dem SMAD-Befehl Nr. 35 die Entnazifizierung offiziell abgeschlossen, alle nicht erledigten Verfahren wurden bis zum 10. April eingestellt. Walter Ulbricht zitierte zwei Tage später Pieck in einer Stellungnahme im "Neuen Deutschland": "Die Mehrzahl, die auf den Nazischwindel hereinfielen und Mitglieder der Nazipartei wurden, besteht aus Angehörigen des werktätigen Volkes. Ihnen gegenüber muß selbstverständlich in der Beurteilung ihres Verhaltens ein anderer Maßstab angelegt werden als gegenüber den Kriegsverbrechern und Naziaktivisten."(390)

Man konnte gemäß der Faschismus-Definition Dimitroffs so vorgehen, weil es ausreichend war, "die kapitalistischen" Grundlagen des Faschismus zu unterbinden. Daher konnte die DDR mit dem Gesetz vom 9. November 1949 den früheren Mitgliedern der NSDAP wieder ihre vollen Rechte zuerkennen. In Thüringen beispielsweise kehrten 1500 ehemalige NSDAP-Mitglieder in ihre alten Berufe zurück, nach dem sie angeblich durch ihre Tätigkeiten in der SBZ bewiesen hätten, daß sie sich um den Aufbau des Sozialismus verdient gemacht haben.(391) Mit den Waldheimer Prozessen, die alles andere als demokratisch waren, wurde die Entnazifizierung endgültig abgeschlossen.

Die Bevölkerung konnte sich nun als vollständig entnazifiziert betrachten, weil die ökonomischen Grundlagen des Faschismus der offiziellen Definition entsprechend beseitigt waren. Dieses Geschichtsbild erleichterte es auch, daß aktivere Nationalsozialisten auch in der DDR wieder Fuß fassen konnten. Die Zahl der Verurteilungen ehemaliger Nationalsozialisten nach 1957 war denkbar gering, sie schwankte zwischen einer und zehn Verurteilungen jährlich.(392)

Mit dem Import des Kommunismus nach sowjetischem Vorbild wurde auch der Antisemitismus von Stalin in die SBZ und der späteren DDR gebracht. Deutsche Juden wurden in nicht wenigen Fällen schlechter als andere Bevölkerungsteile behandelt.

Wie stark die DDR-Führung auf den Antikommunismus des Faschismus fixiert war, läßt sich an einem Beispiel der Wiedergutmachung an Juden exemplarisch aufzeigen:

1945 baten achtzig aus Lagern zurückgekehrte Juden den Leipziger Oberbürgermeister um Pelze für den Winter, da sie diese im NS abliefern mußten. Diese Bitte wurde mit folgender Begründung abgelehnt: "Den Juden wurden diese Pelze nicht aus politischen Gründen weggenommen, sondern weil sie Juden waren [...]. Im Ganzen können die Juden nicht als antifaschistisch bezeichnet werden. Sie wurden passive Opfer der NS-Kampfführung. [...]. Eine Wiedergutmachung halten wir in einzelnen Fällen für nicht zweckmäßig. [Auslassungen im Original, der Verf.]"(393) Dies läßt sich insofern noch verallgemeinern, als der OdF (Opfer des Faschismus) diese Haltung offiziell vertrat. "Im Juli 1945 vertrat der Hauptausschuß der OdF unter Ottomar Geschke die Auffassung, daß Juden zwar Opfer, aber keine Kämpfer gegen den Nationalsozialismus gewesen wären und deshalb keiner besonderen Fürsorge bedürften."(394)

Aber auch auf höchster Parteiebene wurde seit den 50er Jahren eine offizielle Politik betrieben, die eine Auseinandersetzung mit dem rassistischen Antisemitismus und somit einem Kernelement des NS, verhinderte: "Denn die SED stand [...] vor der Aufgabe, [...] klarmachen zu müssen, daß Jude nicht gleich Jude ist, sondern daß es auf die Klassenzugehörigkeit ankommt. Während der Antizionismus Ausdruck des kommunistischen Internationalismus sein soll, gilt der Antisemitismus genauso wie der Zionismus als ein Mittel der Bourgeoisie, mit dem die Klassengegensätze verwischt werden sollen."(395)

Hieraus begründet sich die antizionistische Haltung der DDR, auch der Zionismus war bourgeois. Entsprechend umfangreich war die politische Propaganda gegen Israel: 1968 deckte Simon Wiesenthal die politische Kontinuität von 39 ehemaligen NSDAP-Mitgliedern auf, die in den Presseorganen der DDR beschäftigt wurden. Anlaß war die Beobachtung, daß häufig den NS-Parolen ähnelnde Parolen in der DDR-Publizistik auftauchten. "Wenn man in den Kommentaren der DDR-Blätter das Wort 'Israeli' durch 'Jude' sowie 'fortschrittliche Kräfte' durch 'Nationalsozialismus' ersetzte, glaubte man plötzlich eine Vorlage aus Goebbels Propagandaministerium vor sich zu haben."(396) Die von Wiesenthal gezeigten Fälle politischer Kontinuität waren nicht die einzigen.(397)

5.4.2. Der Zusammenhang mit rechtsradikalen Einstellungen

5.4.2.1 Kommunisten: Unbeliebt in Deutschland

Das neue politische System wurde 1945 abgelehnt: Die Zustimmung zur Kommunistenverfolgung in den ersten Monaten des Nationalsozialismus war offensichtlich. Das antikommunistische Feindbild hatte bereits eine lange Tradition.(398) Warum also sollte nun, nach 1945, eben diese politische Gruppierung von den Deutschen in der SBZ/DDR akzeptiert werden ?

Das läßt sich auch mit empirischen Zahlen belegen: 1948 hielten 57% der Deutschen in den Westzonen den Nationalsozialismus für eine gute Idee.(399) Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum man annehmen sollte, daß sich diese Werte nicht auf die damalige SBZ übertragen lassen.

Zumindest für Jugendliche kann die Ablehnung des Sozialismus in der DDR für 1951 belegt werden, diese Zahlen belegen auch das tradierte Mitläufer-Verhalten: 1951 fanden in Ost-Berlin die dritten Weltfestjugendspiele statt. Von den über zwei Millionen Teilnehmern flüchteten ca. 700000 nach West-Berlin. 500 von ihnen wurden vom Allensbacher Meinungsforschungsinstitut befragt.(400)Die Ergebnisse sind, was die Akzeptanz des politischen Systems der DDR betrifft, niederschmetternd, obwohl 80% der Befragten FDJ-Mitglieder waren: 84% waren der Meinung, daß die Sowjets keine aufrichtige Politik betrieben, 87% meinten, die Volkspolizei sei eine militärähnliche Institution, 60% machten die Sowjets für die Spannungen zwischen Ost und West verantwortlich.

Solche Zahlen dürfen kaum verwundern: Alte Einstellungen können nicht mit bloßen der Einführung eines sozialistischen Systems geändert werden.

Den Sowjets ist es nicht gelungen, den Sozialismus akzeptabel zu machen. Dies aus vielerlei Gründen: Zunächst waren unmittelbar nach 1945 die Demontagen bedeutend schwerwiegender als in den Westzonen. Dies schließlich bestätigte das alte Feindbild. Außerdem wurde kein Wohlstand erzielt wie in der späteren Bundesrepublik. Ein weiterer Grund, warum das neue politische System auf Ablehnung stieß. Das Mißtrauen der politischen Elite der DDR war durchaus berechtigt. Dies hatte dann den Ausbau des Sicherheitsapparates zur Folge, insbesondere nach dem Aufstand am 17. Juni 1953.(401)

5.4.2.2 In der Nische: Tradierung alter Wert- und Normvorstellungen

Die DDR war mit der Abriegelung der innerdeutschen Grenze 1951 besonders abgeschottet (erst recht mit dem Mauerbau 1961), so daß kaum andere Denkanstöße in die Gesellschaft eindringen konnten. Wer das System ablehnte, konnte nur an Vorangegangenes anknüpfen, neue, progressive Ideen blieben den Einwohnern versagt. Das bedeutet schließlich die Tradierung alter Werte- und Normvorstellungen aus dem NS und aus der Zeit davor, besonders dann, wenn sich bestimmte Meinungsäußerungen und politische Symbole ähneln. Das Tradieren alter Vorstellungen geschah natürlich nicht in der Öffentlichkeit, sondern privat. Die DDR war eine sg. Nischengesellschaft. Die Nische selbst ist ein alter Wert: "Statt eines demokratischen Parteienstaates gab es für den deutschen Bürger und Kleinbürger zwei 'Reiche': das feudal-imperialistische Kaiserreich und das Reich aller Innerlichkeiten, für das die deutsche Kultur stand: Musik und Literatur, Vereinsleben und Familiensinn, Naturgenuß und Wanderseligkeit. In der DDR hat sich dieser Dualismus fortgesetzt."(402)

In dieser Nische haben sich auch alte Vorstellungen aus dem Nationalsozialismus erhalten und tradiert, nicht zuletzt auch deswegen, weil einige Politikbereiche aus dem NS ihre Bestätigung fanden: Die Haltung zu Juden und zu Israel war Öl auf das Feuer des Antisemitismus. Solche Ähnlichkeiten, wie sie Wiesenthal aufdeckte, halfen alte Einstellungen beizubehalten statt abzubauen. Ebenso die politischen Rituale: Die Massenauftritte, der Kult um Stalin usw., ließen die Erinnerung an die "gute, alte Zeit" wach werden. Der Nationalsozialismus bis Kriegsbeginn blieb in guter Erinnerung, weil es damals keine Mangelwirtschaft gab. Nur wenige würden ein neues politisches System unterstützen, wenn das bisherige einen höheren Lebensstandard bot. Das Verinnerlichen der Werte eines neuen politischen Systems ist mit wirtschaftlicher Prosperität möglich.(403)

Noch 1959 waren 21% der – allerdings westdeutschen – Bevölkerung der Meinung, daß die Jahre 1933 bis 1939 die "besten" waren.(404) Weil es in der DDR zu keinem großen Wirtschaftsaufschwung kam wie in der Bundesrepublik, die nach DDR-Auffassung ohnehin "faschistisch" war, ist zu vermuten, daß in der DDR dieser Anteil höher lag. Dies spielt eine anscheinend nicht unwesentliche Rolle: "Wir haben ja bis in die sechziger Jahre hinein nichts zu fressen gehabt. War nicht so wie bei euch drüben. Wirtschaftswunder! Bananen, Orangen, haben wir höchstens im Westfernsehen gesehen. [...] Unsere Genossen haben alles nach Kuba geschickt und in die Sowjetunion. Und wir haben die Mutter Erde gefressen."(405) Heute ermutigt eben dieser rechtsradikale Jugendliche in seinem Wohnort.

Er gehörte auch zu den Feinden des Kommunismus: "Im Krieg war ich noch dabei in den letzten Tagen. Freiwillig haben wir uns gemeldet, von der HJ direkt in die Wehrmacht. Heute bin ich stolz darauf. Einer von den Russen ist auf mich zugegangen und hat mich ausgelacht. [...] Er ist auf mich zugegangen und hat in dem typischen Deutsch gesagt: Nichts tun, ich dir nichts tun! Ich hab auf ihn angelegt und abgedrückt, hab ihn in den Bauch geschossen. Er war so erstaunt, daß er nicht einmal zurückgeschossen hat. Ich dachte mir damals schon, es gibt nichts Größeres, als einen Feind umzubringen. Als die Genossen von der DDR gekommen sind, haben wir denen zugejubelt. Mich haben sie gründlich entnazifiziert. Kurse, Schulungen, Prüfungen. Bis ich alles wußte, was sie von mir hören wollten."(406)

Solche antikommunistischen Einstellungen wurden schon in der Frühzeit der DDR in entsprechendes Verhalten umgesetzt: Waibel gibt viele Beispiele von Hakenkreuzschmiereien, antikommunistischen Vorfällen usw.(407)

Willi D. ist ein Beispiel einer fast geradlinigen Kontinuität der Einstellungen. Dieses Zitat zeigt auch, daß er seine Einstellungen in der DDR nicht geäußert hat: Er sagt, daß er heute stolz darauf sei, einen "Feind" ermordet zu haben. Dies zeigt, daß er in der DDR nicht darauf stolz sein durfte. Er behauptet eben nicht, immer darauf stolz gewesen zu sein. In der Nische hat diese Einstellung überdauert, weil es keine öffentliche Auseinandersetzung über den Nationalsozialismus gab.

Daß die "Entnazifizierung" ziemlich wirkungslos blieb, ist nicht besonders zu thematisieren. Tradiert wurde seine Einstellung wegen der politischen Symbolik und der wirtschaftlichen Probleme der DDR. Solche Einstellungsmuster hat es ohne Zweifel auch in der alten Bundesrepublik gegeben. Hier aber konnte das Schweigen durchbrochen werden, die nationalsozialistische Geschichte wurde intensiver aufgearbeitet. Fälle wie "Globke" und die juristische, wenn auch ungenügende, Verfolgung nationalsozialistischer Täter machte bewußt, daß die alten Nationalsozialisten noch vorhanden sind. Das Geschichtsbild der DDR dagegen animierte nicht zu privaten Fragen. Die Auswirkungen sind bis heute in Form rechtsradikaler Einstellungen zu spüren.

Das Mitläufer-Verhalten wiederum liefert Anknüpfungen zum Rechtsradikalismus Jugendlicher: Kinder und Jugendliche brauchen Vorbilder, die vor allem glaubwürdig sind. Nur so können Werte und Normen vermittelt werden. Wie bereits dargelegt wurde, fehlte es in der DDR an Vorbildern. Dies aber auch, weil man sich sehr schnell nach 1945 wieder den neuen politischen Machthabern anschloß. Vertrauen zu den Eltern kann dann kaum entstehen. Die 17jährige Hanna beschreibt einen familiären Disput zwischen ihren Vater und ihren Großvater. Sie äußert sich hierzu wie folgt: "Schon nach dem Krieg sollte sein Vater [also Hannas Großvater, der Verf.] zur SED gehen, schrie er [Hannas Vater, der Verf.], damit sie ihm verzeihen, daß er bei den Nazis war. Jetzt soll ich [meint den Vater, Hanna zitiert ihn direkt, der Verf.] zur SPD, damit sie mir verzeihen, daß ich bei der SED war. [...] Das sind meine Erinnerungen an die Freiheit, an den Fall der Mauer, toll was? Wie soll ich vor denen Achtung haben ?"(408) Dies führt erneut zu Mitläuferverhalten, wie Hauer dargelegt hat. Niethammer gibt darüber hinaus zahlreiche Beispiele dafür, daß die "Lehre" aus der Geschichte in der DDR für viele der Rückzug in die Nische war, um sich möglichst von der Politik fernzuhalten.(409)

Die Gründe für die Gefühlsdefizite und mangelnden Vorbilder sind auch in der politisch-historischen Konstellation nach 1945 zu finden. Die Rahmenbedingungen waren nicht dazu geeignet, nationalsozialistische Ideologie im gleichen Maß abzubauen wie in der alten Bundesrepublik. Das hat Wirkungen, wie am Beispiel Hanna zu erkennen ist, bis in die dritte Generation hinein.

5.4.3 Zusammenfassung

Kommunistenfeindschaft hatte in Deutschland Tradition. Deswegen war das neue politische System kaum akzeptiert. Durch die Abschottung, insbesondere nach dem Mauerbau 1961, konnten kaum neue Ideen in die Bevölkerung eindringen. Die politische Führung mußte sich repressiver Maßnahmen bedienen, um ihre Macht zu sichern. Sie war von der Bevölkerung kaum legitimiert. Gleichzeitig aber hat diese Gruppe die Bevölkerung von historischer Schuld entlastet. Der verordnete Antifaschismus bot eine ideale Möglichkeit, die individuelle Rolle im Nationalsozialismus nicht zu hinterfragen. Durch die repressiven Maßnahmen, aber auch durch die Verwendung ähnlicher politischer Symbole, erinnerte man sich an alte (nationalsozialistische) Zeiten. Dies wurde tradiert. Das Mitläuferverhalten konnte wiederum zu Vertrauensverlusten innerhalb der Familie führen, die sich nach der Wende radikalisiert haben. Die sehr dünne empirische Basis läßt keine weiteren Aussagen zu. "Ohne Zweifel haben sich viele Deutsche in der DDR individuell auf eine tiefergehende Weise mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus auseinandergesetzt, jedoch das Fehlen einer Diskussion dieser Probleme im gesellschaftlichen Rahmen hat Verdrängungen und Tabuisierungen befördert. Eine notwendige differenzierte Analyse dieser Vorgänge bedarf der Befunde biographisch orientierter Untersuchungen und der historischen Sozialisationsforschung."(410)

Der historisch-politische Kontext läßt aber vermuten, daß solche Tradierungen und Folgen von Tabuisierungen häufiger zu finden sind.

Die biographische Untersuchung Niethammers schließlich gibt Beispiele hierfür. Das Kernproblem, "[d]aß solche Stereotype [meint antisemitische, der Verf.] trotz öffentlicher Verbannung weiterleben können und in einer kaum auf glaubwürdige Auseinandersetzung angelegten Öffentlichkeit wenig Widerstand (wenn auch keine Bestärkung finden), ist jedenfalls nicht unwahrscheinlich."(411)Der Lerneffekt, der in der Bundesrepublik von den nachfolgenden Generationen erkämpft worden ist, blieb in der DDR aus. Die Rahmenbedingungen haben ideologische Bruchstücke aus dem Nationalsozialismus stärker konserviert. Um Mißverständnisse auf diesem sensiblen Gebiet zu vermeiden, muß es noch einmal ausdrücklich wiederholt werden: Die Bundesrepublik soll nicht aufgewertet werden. Auch hier verhinderte Schweigen und Verdrängung die Aufarbeitung. Es gab aber die Möglichkeit, dies in Frage zu stellen, während in der DDR "Geschichte von unten" unterbunden wurde.(412)

(105) Die Anzahl der Gewalttaten stammt aus: Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 1991, S. 76, Bonn 1992. Die Angaben zu den übrigen Bundesländern fehlen wegen der geringen Anzahl der Gewalttaten. Die Angaben der Einwohnerzahlen stammen aus: Baratta, Mario von (Hrsg.): Fischer-Welt-Almanach '92, Frankfurt a. Main 1991, S. 284ff. Trotz der unterschiedlichen Jahresangaben in den Titeln beziehen sich beide Statistiken auf den gleichen Erhebungszeitraum.

(106) Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 1991, Bonn 1992, S. 76.

(107) Ebd., S. 76.

(108) Vgl. z. B. Bürklin, Wilhelm und Layritz, Stephan: Die schleswig-holsteinische Landtagswahl vom 5. April 1992 und Sturm, Roland: Die baden-württembergische Landtagswahl vom 5. April 1992, beide in: ZParl, 23. Jhg. (1994), Nr. 4/1992, S. 604-622 und S. 622-639. Vgl. ebenso Feist, Ursula: Rechtsruck in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, in: Starzacher, Karl/Schacht, Konrad/Friedrich, Bernd/Leif, Thomas (Hrsg.): Protestwähler und Wahlverweigerer. Krise der Demokratie ?, Köln 1992, S. 69-76 und Hennig, Eike: Die Kommunalwahl in Hessen, in: Vorgänge, 32. Jhg., Nr. 122 Heft 2/1993, S. 4-15. Sturm, Roland: Die baden-württembergische Landtagswahl vom 24. März 1996: Normalisierung oder kleinster gemeinsamer Nenner ?, in: ZParl, 27. Jhg. (1996), Heft 4/96, S. 602-616.

(109) Vgl. Scherr, Albert: a. a. O., S. 101f.

(110) Stöss '90, S. 39.

(111) Stöss versteht unter "extrem rechten Einstellungspotential" das Zusammentreffen von vier Dimensionen: 1. Entfremdung, 2. Autoritarismus/Repressionshaltung, 3. Nationalismus, 4. Ethnozentrismus/Wohlstandschauvinismus. Vgl. Stöss '90, S. 18.

(112) Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 1995, Bonn 1996, S. 102f.

(113) Ebd., S. 100.

(114) Ebd.

(115) Ebd., S. 103.

(116) Vgl. ebd., S. 108.

(117) Lillig, Thomas: a. a. O., S. 159.

(118) Stöss, Richard: a. a. O., S. 31.

(119) Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.): a. a. O., S. 83. Dies gilt auch für die jüngsten Gewalttaten in Brandenburg: Nur die wenigsten Gewalttäter waren tatsächlich arbeitslos. Vgl.: "Älter als 21 und mit Job", in: Berliner Tagesspiegel vom 1. November 1996, S. 16. Von 27 ermittelten Tatverdächtigen waren nur vier arbeitslos, der größte Teil war älter als 21.

(120) Vgl. auch Markus, Uwe: a. a. O., S. 163, der zu ähnlichen Ergebnissen kommt bezüglich der Zusammenhänge von Qualifikation, Arbeitsplatzrisiko und Fremdenfeindlichkeit. Außerdem zeigt er, daß das Ablehnungspotential quantitativ nicht gewachsen ist von April 1990 bis Juni 1991 in den neuen Bundesländern. Vgl. hierfür S. 161f. Ein negativer Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und Fremdenfeindlichkeit (also je geringer der Bildungsgrad, desto größer die Wahrscheinlichkeit von fremdenfeindlichen Einstellungen) wird häufig festgestellt, z. B. Stöss '90, S. 47 oder IBM '92, S. 132 und IBM '95, S. 23.

(121) Vgl. Heitmeyer, Wilhelm et al.: Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie. Erste Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher, Weinheim und München 1992. Dagegen kommen Silbermann/Hüsers zu dem Ergebnis, daß die Arbeitsplatzqualität keine Rolle spiele. Vgl. Silbermann, Alphons/Hüsers, Francis: a. a. O. Wahrscheinlich wirkt dieser Zusammenhang stärker bei Jugendlichen (die Untersuchung von Silbermann/Hüsers umfaßt alle Altersgruppen), weil Jugendliche noch Lebensträume und -ziele haben. Ältere haben sich eher mit dem bisher Erreichten abgefunden.

(122) Vgl. Stöss '90, S. 39ff, eine Zusammenfassung befindet sich auf S. 47.

(123) Melzer, Wolfgang/Schröder, Helmut: Ökonomische Risiken und Verunsicherung in Ost- und Westdeutschland. Vergleichende Befunde aus dem Jahr nach der Wende, in: Mansel, Jürgen (Hrsg.): a. a. O., S. 163-184, hier S. 184.

(124) Dieser Zusammenhang wird deutlich an den Aussagen vieler fremdenfeindlich Eingestellter, die z. B. argumentieren, daß Ausländer "uns" die Arbeit wegnähmen usw. Der Begriff "uns" kann natürlich unterschiedlich gefüllt werden. Vgl. Meier, Uta/Preiß, Christine: Vor den Toren der Leistungsgesellschaft. Zum Zusammenhang von beruflichen und politischen Einstellungen von Jugendlichen, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): a. a. O., S. 135-155.

(125) Häufig ist auch zu hören, daß Ausländer "uns" die Wohnungen wegnähmen.

(126) Vgl. z. B. Silbermann, Alphons/Hüsers, Francis: a. a. O., S. 73ff.

(127) Melzer, Wolfgang/Schröder, Helmut: a. a. O., S. 182.

(128) Statistische Angaben zur Arbeitslosenquote sind entnommen aus: Weidenfeld, Werner/Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1994, S. 757

(129) Statistische Angaben zur Arbeitslosenquote aus ebd. Das Bundesland Berlin ist nicht aufgeführt, weil hier die Zahl der Gewalttaten nur für Gesamt-Berlin vorliegt, die Arbeitslosenquote jedoch getrennt nach Ost- und West-Berlin.

(130) Vgl. dazu die Angaben in den Verfassungsschutzberichten. Auch die verschieden hier vorgestellten Studien zeigen einen hohen (negativen) Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und fremdenfeindlichen Einstellungen, z. B. Stöss '90, S. 42; IBM '95, S. 23.

(131) Zu diesem Ergebnis kommen E. Brähler und H.-E. Richter in ihrer repräsentativen Studie über Westdeutsche. Vgl. dies.: Wie haben sich die Deutschen seit 1975 psychologisch verändert ? Mehr Individualismus, mehr Ellbogen, stärkere Frauen, in: Richter, Horst-Eberhard (Hrsg.): Russen und Deutsche. Alte Feindbilder weichen neuen Hoffnungen, Hamburg 1990, S. 115-134, hier S. 116.

(132) Schröder, Helmut/Melzer, Wolfgang: a. a. O., S. 168.

(133) Vgl. Melzer '90, S. 135.

(134) Ende Oktober '96 wurden zwei britische Studenten überfallen. Die geständigen Täter, die der rechtsradikalen Szene zuzuordnen sind, sagten aus, daß sie die Briten nicht als Ausländer erkannt haben. Dies kann natürlich auch eine Schutzbehauptung sein. Vgl. "Ministerin besucht verletzte Briten", in: Berliner Tagesspiegel vom 31. 10. 19'96, S. 21.

(135) Vgl. DJI '90, S. 120. Ähnlich auch IBM '90, S. 135: "1990 hatten sich 16% in der Bundesrepublik und sogar 26% der Jugendlichen in der DDR dafür ausgesprochen, alle Ausländer wieder nach Hause zu schicken."

(136) IBM '95, S. 23.

(137) Vgl. dazu den Abschnitt 5.2.1 "Die Wohn- und Arbeitssituation der Ausländer".

(138) Der Umkehrschluß, daß Fremde in der Bundesrepublik völlig gleichberechtigt sind, ist natürlich unzulässig. Dies wird deutlich an Tabelle 2.

(139) Vgl. Heitmeyer, Wilhelm et al.: Gewalt: Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus, Weinheim/München 21996, S. 136ff.

(140) Vgl. DJI '90, S. 118.

(141) Vgl. Stöss '90, S. 90. Auch hier läßt sich stärkere Rigidität ablesen. Ebenso Silbermann/Hüsers: a. a. O., S. 32f.

(142) Vgl. Melzer '90, S. 128.

(143) In anderen Staaten hätten vieler dieser Türken bereits die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Staates. In Deutschland gilt immer noch das die Integration erschwerende ius sanguinis. Das bedeutet, daß Staatsbürgerschaft von der des Vaters abhängig ist. In vielen anderen Staaten gilt jedoch das ius soli: Der Geburtsort bestimmt die Staatsbürgerschaft.

Vgl. zur allgemeinen Situation der Ausländer in Deutschland die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer (Hrsg.): Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1995.

(144) Dies wird näher im Abschnitt 4.2.3 "Umgang der DDR mit der NS-Vergangenheit" erläutert.

(145) Vgl. Brusten, Manfred: Wie sympathisch sind uns die Juden ?, in: JfA 4, Frankfurt a. Main/New York 1995, S. 107-129, hier S. 110.

(146) Vgl. Oesterreich, Detlef: Autoritäre Persönlichkeit und Gesellschaftsordnung. Der Stellenwert psychischer Faktoren für politische Einstellungen – eine empirische Untersuchung von Jugendlichen in Ost und West, Weinheim/München 1993, S. 15ff.

(147) Vgl. Butterwegge, Christoph: a. a. O., S. 44.

(148) Hier kann natürlich nicht auf die gesamte Begrifflichkeit eingegangen werden. Zur Vorgeschichte und Kritik an den einzelnen Ansätzen vgl. Oesterreich, Detlef: Flucht in die Sicherheit. Zur Theorie des Autoritarismus und der autoritären Reaktion, Opladen 1996, S. 17-102. Zur Geschichte der Frankfurter Schule vgl. einführend Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung, München 31991. Zur Kritik an Adorno vgl. auch Wacker, Ali: Zur Aktualität und Relevanz klassischer psychologischer Faschismustheorien – ein Diskussionsbeitrag, in: Paul, Gerhard/Schoßig, Bernhard (Hrsg.): Jugend und Neofaschismus. Provokation oder Identifikation ?, Frankfurt/Main 21980, S. 105-137, aber auch Jay, Martin: Frankfurter Schule und Judentum. Die Antisemitismusanalyse der Kritischen Theorie, in: Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 5. Jhg. (1979), Nr. 4, S. 439-454.

(149) Vgl. Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. Main 1995, S. 91-104.

(150) Vgl. auch Kloke, Martin W.: Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses (Schriftenreihe des deutsch-israelischen Arbeitskreises für Frieden im nahen Osten e. V. Bd. 20), Frankfurt a. Main 1990.

(151) Oesterreich, Detlef: a. a. O., S. 46.

(152) Ebd., S. 170ff.

(153) Stöss '90, S. 29.

(154) Stöss '90, S. 82.

(155) Stöss '90, S. 28.

(156) Vgl. Oesterreich, Detlef: Flucht in die Sicherheit, a. a. O., S. 107-182. Die Definition wird im nächsten Abschnitt erläutert.

(157) Vgl. hierzu Melzer '90, zum Rechtsextremismussyndrom 136ff. Das Syndrom setzt sich Zusammen aus Antisemitismus/Ethnozentrismus (alte Ressentiments), autoritäre Charakterstrukturen, Nationalitätsstereotypen (Antipathie gegen diskriminierte Nationen, d. h. neue Ressentiments), historisch-nationalisierende Einstellungen ("Entsorgung der deutschen Vergangenheit"). Erklärt werden soll die Variable "manifeste Ausländerfeindlichkeit". Vgl. die Pfadanalyse S. 139.

(158) Melzer '90, S. 140.

(159) Melzer '90, S. 140.

(160) Melzer übernimmt eine von anderen Wissenschaftlern modifizierte F-Skala Adornos. Vgl. Melzer '90, S. 132f.

(161) Vgl. Stöss '90, S. 88.

(162) Vgl. hierzu die Titel in der Literaturliste.

(163) Melzer '90, S. 140.

(164) Vgl. Oesterreich, Detlef: Autoritäre Persönlichkeit und Gesellschaftsordnung. Der Stellenwert psychischer Faktoren für politische Einstellungen – eine empirische Untersuchung von Jugendlichen in Ost und West, Weinheim/München 1993, S. 213. Zu seiner Kritik an Adorno vgl. S. 11-25.

(165) Hierauf bezieht sich auch Heitmeyer. Dieser Begriff wurde im wesentlichen von Beck geprägt. Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main 1986. Auf die Kritik am herkömmlichen Konzept des Autoritarismus kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, erläutert wird im Folgendem lediglich das neue Konzept. Ebenso kann hier nicht auf die Implikationen Autoritarismus in der "Risikogesellschaft" näher eingegangen werden. Nur soviel: In nicht-traditionellen Gesellschaften werden mehr Freiheiten geschaffen, die aber mehr Unsicherheiten mit sich bringen. Das Individuum ist zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen und flüchtet u. U. in neue Sicherheiten. Vgl. bezüglich des jugendlichen Rechtsradikalismus die in der Literaturliste angegebenen Titel, insbesondere die von Heitmeyer.

(166) Oesterreich, Detlef: a. a. O., S. 27.

(167) Ebd., S. 26.

(168) Ebd., S. 32.

(169) Ebd., S. 52.

(170) Ebd., S. 55. Die besondere Schwierigkeit liegt darin, daß nach der Wende die "Über-Eltern" fehlen. Vgl. Stöss' Entfremdungs-Item (Anmerkung 155).

(171) Oesterreich, Detlef: a. a. O., S. 54. Diese pauschale Aussage aber muß zeitlich differenziert werden. Sehr ausführlich gehen dem nach: Thaa, Winfried/Häuser, Iris/Schenkel, Michael/Meyer, Gerd: a. a. O.

(172) Oesterreich, Detlef: a. a. O., S. 57.

(173) Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation, Frankfurt a. Main 1975, S. 43.

(174) Ebd.

(175) Ebd.

(176) Oesterreich, Detlef: Flucht in die Sicherheit, a. a. O., S. 46. Vgl. ebenso die kritische Betrachtung Wolfgang Wippermanns: Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion (Erträge der Forschung Bd. 17), 5. neu bearb. Aufl., Darmstadt 1989, S. 76-80, "The Authoritarian Personality" betreffend S. 79.

(177) Vgl. ebd., S. 170 und Milgram, Stanley: a. a. O.

(178) Vgl. Melzer '90, S. 129.

(179) Vgl. Melzer '90, S. 128.

(180) Vgl. Förster, Peter/Friedrich, Walter/Müller, Harry/Schubarth, Wilfried: a. a. O., S. 156.

(181) Auf die Haltung zum Israel-Palästina-Problem kann hier natürlich nicht näher eingegangen werden. Vgl. einführend: Wolffsohn, Michael: Die Deutschland-Akte. Tatsachen und Legenden, München 1995, S. 177-274 (leider einseitig und polemisch); Mertens, Lothar: Staatlich propagierter Antizionismus: Das Israelbild der DDR, in: JfA 2 (1993), S. 139-153 und Timm, Angelika: Israel in den Medien der DDR, in: JfA 2 (1993), S. 154-173.

(182) Die hohen Korrelationen sind eindeutig. Vgl. Brusten, Manfred: a. a. O., S. 111 und S. 126 (Anmerkung 15). Vgl. auch Mertens, Lothar: Antizionismus: Feindschaft gegen Israel als neue Form des Antisemitismus, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils, München 1995, S. 89-100. Harry Waibel zieht die selbe Schlußfolgerung. Er charakterisiert dies als "linker Antizionismus als sublimiertem Antisemitismus". Vgl. Waibel, Harry: a. a. O., S. 197-211.

(183) Spülbeck, Susanne: "...da hab' ich gekuttet wie ein Jude." Beobachtungen zum Antisemitismus in einem Dorf in Thüringen, in: Benz, Wolfgang: a. a. O., S. 194-216, hier S. 206.

(184) Zum Antisemitismus der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik vgl. Stern, Frank: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv, Bd. 14), Gerlingen 1991.

(185) Vgl. Borris, Bodo von.: "Geschichtsbewußtsein" in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich, in: Weidenfeld/Werner (Hrsg.): Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte (Bd. 5 der Arbeitsergebnisse der Studiengruppe Deutschland), Köln 1993, S. 191-207, hier S. 197f.

(186) Vgl. Schubarth, Wilfried/Schmidt, Thomas: "Sieger der Geschichte". Verordneter Antifaschismus und die Folgen, in: Heinemann, Heinz/Schubarth, Wilfried (Hrsg.): Der antifaschistische Staat entläßt seine Kinder. Jugend und Rechtsextremismus in Ostdeutschland, Köln 1992, S. 12-28, hier S. 20.

(187) Im September 1992 erfolgte ein Brandanschlag auf die sg. "jüdische" Baracke in Sachsenhausen, im Frühjahr 1995 wurde auf einer sich in der unmittelbaren Nähe befindlichen Straßenwalze "Judenwalze" geschrieben. Im August 1994 schrien jugendliche Besucher in der Gedenkstätte Buchenwald "Heil Hitler". In anderen Gedenkstätten hat es solche Schändungen (noch) nicht gegeben. Dies erfuhr der Verf. auf einem Gedenkstättenseminar für Mitarbeiter in Oranienburg im Oktober 1995.

(188) Vgl. Förster et al.: a. a. O., S. 123f.

(189) Dies gesteht er auch selbst ein. Vgl. Stöss '90, S. 51f. Eines seiner Items war z. B. "Ausräuchern linker Buchläden" u. ä.

(190) Vgl. Stöss '90, S. 28.

(191) Vgl. IBM '95, S. 78.

(192) Vgl. DJI '90, S. 100-113.

(193) Vgl. für die folgenden Aspekte Heitmeyer, Wilhelm: a. a. O., S. 138f.